Eines Nachmittags im Jahr 1919 wandert die junge Deutsche Anna mit dem ebenso jungen Franzosen Adrien im Harz durch einen Felstunnel. Just in dem Moment, in dem sie wieder ans Licht treten, erzählt Anna, wie ihr vor dem Krieg genau hier ihr Verlobter Frantz einen Antrag gemacht hat. Es ist die erste Stelle im Film, in dem die Erinnerung so etwas wie Glück auf Annas tieftrauriges Gesicht zaubert. Und es ist der erste Moment, an dem François Ozon den Schwarz-Weiß-Film für kurze Zeit in Farbe taucht.
Immer wieder befreit sich die Adaption von Ernst Lubitschs Bühnenstück-Verfilmung „Broken Lullaby“ (1931) vom erdrückenden Realismus des Schwarz-Weiß und zwar genau dann, wenn das thematisiert wird, was den Menschen ausmacht, bevor es der Krieg in ihm auslöscht: die Verbundenheit mit der Natur, die Hingabe an die Musik, die Erinnerung an einen geliebten Menschen und natürlich die Liebe selbst.
Denn Frantz, um den sich die Gedanken und Gefühle der beiden Wanderer drehen, lebt nicht mehr. Der Erste Weltkrieg hat Anna den Verlobten und dem Franzosen Adrien den besten Freund genommen, wie so vielen Menschen in diesem Ort irgendwo in der Mitte Deutschlands, wo der Hass auf Frankreich noch groß ist. Jungen Männern mit Verbrennungen oder fehlenden Gliedmaßen begegnet Anna auf ihrem täglichen Weg zu der Grabstätte immer wieder, an der sie eines Tages den tief versunkenen Adrien entdeckt. Während Frantz’ Studienzeit in Paris hätten sich die beiden Männer vor dem Krieg angefreundet.
Zumindest bestätigt der schüchterne Adrien diese Vermutung der Familie, als er sich durch Annas Vermittlung im Wohnzimmer der Hoffmeisters wiederfindet, wo die schon alten Eltern mit großen Augen an seinen fein geschnittenen Lippen hängen. „Haben sie keine Angst, uns glücklich zu machen“, fordert Frantz’ Mutter Adrien zum Erzählen auf. Da ist das Misstrauen des Vaters schon abgeebbt. Mit dem Verlust des Kindes wurde ihnen die Zukunft genommen, mit Adrien kann wenigstens die Vergangenheit ein bisschen aufscheinen. „Meine einzige Wunde aus dem Krieg“, sagt Adrien später zu Anna, noch tropfnass vom Bad im See, „ist Frantz“. Da läuft ihm ein Wassertropf den Nabel entlang, als wolle er sich in den Bauch einschneiden.
François Ozon ist hier die wunderschöne und doch tieftraurige Bestandsaufnahme zweier Seiten gelungen, auf denen es nur Verlierer gab. Eine Leichtigkeit und Ruhe durchzieht diese Erzählung, obwohl sie so viele Konfliktfelder anreißt: Die Schuld der Vätergeneration, die ihre Söhne für das Vaterland in den Krieg geschickt hat. Die Frage, ob eine Lüge nicht die bessere, weil weniger schmerzhafte Wahrheit sei. Oder das Vermögen von Fiktion und Kunst, diese Welt erträglicher, wieder bunt zu machen. So fängt Adrien an, den Hoffmeisters von seiner Zeit mit Frantz zu erzählen: Szenen gemeinsam besuchter Tanz-Cafés, in Farbe getauchte Louvre-Ausflüge und gemeinsame Geigen-Stunden verkauft die Filmerzählung als eine Wahrheit, die sich als falsch herausstellen wird. Aber originellerweise nicht in der Art, wie man es in Kenntnis des Werks von Ozon erwarten würde – oder paradoxerweise vielleicht gerade deshalb, weil Ozons Filme und Figuren nie derartig eindeutig sind, wie man es ihnen gerne andichtet.
Wenn in „Frantz“ eine Welt aus Schwarz und Weiß für Verlust und Trauer steht, dann versinnbildlicht die immer wieder einbrechende Farbe das Aufscheinen von Hoffnung und Verzeihen. In der Mitte dieser Bildungsgeschichte, die mit Referenzen an die deutsche Romantik nicht geizt, reist Anna nach Frankreich, wo sie auf dieselben Zerstörungen und Nationalismen trifft, wie sie sie in Deutschland erlebte – so viel Hass, so viele Gemeinsamkeiten. Der Film kehrt die Perspektive um, weicht Anna aber nie von der Seite. Anna entdeckt Seiten, die sie von ihrem Verlobten nicht kannte und die ihr nicht gefallen können, was Ozon aber nicht weiter akzentuiert. Er bleibt bei Annas akutem Leid, sich nach dem Tod des Verlobten in einen Mann zu verlieben, den ihr die Historie und die Moral eigentlich verbieten. Von Paula Beer berührend und eindrücklich gespielt, wirkt Annas Einsamkeit so tief, dass sie alle Ressentiments und Feindschaften unterwandert.
Freund oder Feind, Hass oder Liebe müssten nicht auf immer die beiden Seiten einer Medaille sein. Manchmal könnten sie auch nur der Widerschein des jeweils anderen sein, eine aufoktroyierte Illusion. Das Unglück ist austauschbar, die Liebe auch. Irgendwann, da ist Adrien schon längst zurück in Frankreich, geht Anna erneut durch den Felstunnel – alleine. Da bleibt die Welt grau.