„Über den Unfall kann ich wenig sagen. Irgendetwas fiel vom Himmel.“ Als Tom aus dem Koma erwacht, erkennt er die Umgebung nicht mehr – und sich selbst nicht in ihr. Die Welt muss neu betrachtet und ertastet werden, der Körper lernen, wie das geht: laufen, sich die Schuhe binden, nach Gegenständen greifen. Für die fehlenden Erinnerungen an die Zeit vor dem Unfall gibt es hingegen keine Vorlage oder Handlungsanweisung. Stattdessen klafft da ein schwarzes Loch. So greift Tom am Anfang von „Remainder“ immer wieder ins Leere und berührt die Luft, wie um einer unkonturierten Welt Konturen abzuringen. Einmal zeichnet er mit seinem Finger langsam einen Kreis nach, den jemand in die Glastür einer Telefonzelle geritzt hat, als könne er sich damit ein Stück gelebte Erfahrung zurückholen.
Tom geht Spuren nach, arbeitet sich durch Déjà-vus hindurch, fügt Erinnerungsfragmente zusammen: ein Junge in einem blau-roten Anorak, eine Frau mit Kopftuch im Treppenhaus, eine Geldmünze auf einer Hand. Er beginnt zu zeichnen, baut aus Pappe ein Haus. Mit den großzügigen Mitteln aus dem Schadensersatz beauftragt er schließlich einen Super-Consulter, der dieses Haus sucht, nach seinen Erinnerungen gestaltet und seine mal mehr, mal weniger schemenhaften Erinnerungsbilder darin rekonstruiert und aufführt – mit bezahlten Schauspielern, einem Regisseur, komplexem Sound (Geklapper, Klaviergeklimper), Gerüchen (gebratene Rinderleber) und maunzenden Katzen auf dem Dach.
„Remainder“ bedeutet Rest, die Verwechslung mit dem Begriff „Reminder“ (Erinnerung, Gedächtnishilfe) ist sicherlich willkommen. Regisseur Omer Fast untersucht in seiner Verfilmung von Tom K. McCarthys gleichnamigem Roman die Mechanismen und Funktionsweisen von Erinnerung, gerade auch für die Konstruktion von Identität. Der in Berlin lebende israelische Filmemacher kann gewissermaßen als ein Spezialist auf diesem Gebiet betrachtet werden. Wiederholt hat sich Fast in seinen Videoarbeiten mit dem Nachwirken von Ereignissen befasst und der Frage, wie Erfahrung in Erinnerung transformiert und weiterverarbeitet wird.
Der erste Langfilm des Künstlers ist souverän inszeniert, die Balance zwischen Thriller und Konzeptfilm klug austariert; die komplette Durchgestaltung des Films, den Eindruck des luftdicht Abgeschlossenen, muss man allerdings mögen. Stilistisch verbindet der Film eine kühle, eher technisch anmutende Ästhetik in farbentsättigten Grau- und Blautönen mit gedeckten Farben und Patina: auf der einen Seite die unpersönliche Welt von Krankenhaus und Geschäftswelt, auf der anderen die rekonstruierte Vergangenheit mit ihren schäbigen Oberflächen.
„Remainder“ zählt zu der Sorte von Film, die beim Betrachter das beunruhigende Gefühl erwecken, das Gehirn habe sich verknotet. Toms Reenactment nimmt immer obsessivere und detailreichere Züge an, irgendwann erscheint es so real wie die Wirklichkeit, es wird zur Wirklichkeit. Tom setzt dabei sein Erinnerungstheater mit fast monströser Rücksichtslosigkeit mitten im Londoner Stadtteil Brixton in Szene; er kauft das Haus, wirft die Mieter auf die Straße und schreckt auch nicht davor zurück, das Skript seiner Erinnerungen (oder doch das seiner Visionen? Träume? Hirngespinste?) an einen riskanten Heist-Plot zu koppeln. Tom Sturridge spielt diesen jungen Mann sehr schön feinnervig, mit einer Mischung aus Fragilität und Unerbittlichkeit.
Was Omer Fasts „Remainder“ von konventionelleren „Mindfuck“-Filmen unterscheidet, ist sein selbstreflexives Moment. Denn schließlich gleichen Toms Regieanweisungen bis hin zum genauen Bewegungsablauf beim Teppichstolperer der Filminszenierung selbst. Man kann in „Remainder“ nicht nur an der Struktur der Möbiusschleife irrewerden, sondern auch an der Idee, dass das Kino nichts ist als ein Déjà-vu.