Unsere Wahrnehmung von Welt war noch nie so stark vom Bewegtbild bestimmt wie heute. Zugleich aber kann man den bewegten Bildern immer weniger trauen: Sie wirken so perfekt realistisch, dass der Trug computergenerierter oder computerbearbeiteter Bewegtbildwelten oft kaum mehr auszumachen ist. Das ist im Fiktiven an sich kein Problem, muss im Bereich des so genannten Dokumentarischen aber diskutiert werden: bei Nachrichten- und Live-Sendungen im Fernsehen und im Internet, vor allem aber im Bereich von Reality-TV und des klassischen Dokumentarfilms.
Einer, der diese Diskussion offen und offensichtlich führt, ist der Schweizer Nicolas Steiner. Eigentlich ein „Jungfilmer“, Steiner ist Jahrgang 1984 und „Above and Below“ seine Diplomarbeit im Fach Regie der Filmakademie Baden-Württemberg, hat er schon zu Studienzeiten auf sich aufmerksam gemacht. Mit dem mehrfach preisgekrönten „Ich bin’s Helmut“ (2010) etwa, einem 11-minütigen Kurzfilm, in dem sich die Realität des Protagonisten dank ständig wegbrechender Kulissen permanent veränderte. Und mit „Kampf der Königinnen“ (2011), einem in krudem Schwarz-Weiß gehaltenen Dokumentarfilm über den in Steiners Heimat gepflegten „Kuhkampf“; der Film operiert derart offensichtlich mit dramatisierenden Mitteln des fiktiven Erzählens, dass man als Kritiker nur zetern oder aber zusammen mit dem Publikum in bewunderndes Lob ausbrechen kann.
Da Steiners bisherige Filme in der Schweiz verbrämt waren, hat er „Above and Below“ nun in den USA gedreht. Ausgehend von einer Fotoserie, die er während eines Studienaufenthalts in Kalifornien schoss, beschäftigte er sich über längere Zeit mit den Begriffen „Cowboys“, „Ghosts“ und „Aliens“, wobei die Cowboys unter anderem als Metapher für die Vergangenheit, die Aliens für die Zukunft stehen und Ghosts demzufolge die gegenwärtige Mitte markieren. Ein breites Spannungsfeld, in das sich auch „Above and Below“ einschreibt, der sich von den Flutkanälen unter Las Vegas hoch zum Himmel bewegt; Dunkelheit und Helligkeit markieren eine weitere Achse.
Es beginnt unten. Mit Tropf- und Gluckgeräuschen, in der vagen Dunkelheit eines Stollens. Mit Lalo, der erzählt, wie die Flut eines Tages eine neben ihm hausende Familie wegspülte und ihm seither deren „little girls“ als Geister erscheinen. Dann geht es unvermittelt hoch, den Schienen einer Achterbahn entlang, der gleißenden Helle des Himmels entgegen. Am Ende des Films werden Rick und Cindy, die wie Lalo in den Stollen hausen, auf ebendieser Achterbahn in den Nachthimmel sausen: ein fulminantes Ende. Bildergewaltig, ein klein bisschen kitschig und ausgesprochen hoffnungsvoll für einen Film, der vorgeblich vom Anderen erzählt: dem Leben im Schatten der Gesellschaft.
Es kann jeden treffen, sagt Lalo, dessen Erzählung das Rückgrat dieses Filmes bildet: Ärzte, Anwälte, gut ausgebildete Fachkräfte. Plötzlich steht man da und hat nichts mehr. Auch keinen Plan B, wie Dave es formuliert. Dave ist ausgebildeter Armee-Sanitäter, jahrelang Truck gefahren, hat zwei Ehen hinter sich. Doch nun haust er mutterseelenallein in einem ausrangierten Militärbunker in der kalifornischen Wüste und kennt seine Enkelin nur von der Facebook-Seite seiner Tochter. Irgendwann werde er die Seinen wieder sehen, hier auf Erden oder eben im Paradies. Dave hat keinen Job, aber Erinnerungen: „Wissen sie, was eine M16 einem menschlichen Körper antut?“
So wie Dave war auch April in der Armee; sie stand im Einsatz im Irak. Die ausgebildete Ingenieurin will keine Kinder. Aber sie träumt davon, dass die Menschen dereinst zum Mars fliegen und arbeitet in der „Mars Desert Research Station“: Großartig grotesk muten die Aufnahmen von April und ihren Kollegen an, die in ausrangierten Raumfahrt-Anzügen in der Stein-Wüste Utahs Mars-Expeditionen simulieren. Dies vor allem dann, wenn plötzlich Kühe auftauchen.
Tatsächlich lebt „Above and Below“ nicht nur von den oft erschütternden Erzählungen und Erlebnissen seiner Protagonisten; Rick und Cindy zum Beispiel müssen immer mal wieder mitansehen, wie die Fluten ihr weniges, aus Abfall zusammengesammeltes Hab und Gut davontragen; sondern mindestens ebenso sehr von seinen Schauplätzen und Bildern. Von Bildern, die sich nicht in den puristischen Kanon des Dokumentarischen einordnen, sondern inspiriert von den Fiktionen Hollywoods auch deren Mittel bedienen. So ist denn auch „Above and Below“, wie alle Steiner-Filme, mit einem exquisiten Soundtrack versetzt, der die Erzählung unterstützt und die Stimmungen bestimmt, ein schlicht großartiger und mutiger Film – an dem sich der Geist der Kritik hoffentlich im heftigen Disput entflammt.