Was ist ein Soldat, wenn er nicht an der Front kämpft? Vor allem ein Mann. Im Fall von Bruno von Falk zudem ein gutaussehender, höflicher und kultivierter. Und einer, der da ist, im Gegensatz zu all den Männern, die gefallen sind oder, wie Luciles Ehemann, irgendwo weit weg in der Kriegsgefangenschaft. Doch weil Bruno nicht nur ein Mann ist, sondern auch ein Deutscher, weiß die junge Französin, dass sie sich nicht davon berühren lassen darf, wenn Bruno abends so schön Klavier spielt und tagsüber im Garten mit ihr ins Gespräch zu kommen versucht. Luciles Schwiegermutter wacht darüber, dass Bruno für die Damen des Hauses Angelliers nur eines bleibt: ein Feind. Die Anziehungskraft zwischen dem Offizier und Lucile ist allerdings so stark, dass sie die Vernunftgründe, die gegen ihre Liebe sprechen, allmählich unterläuft. Bis etwas passiert, was Lucile und in der Folge auch Bruno zwingt, jenseits des Kokons privater Gefühle Stellung zu beziehen.
Irène Némirovsky, eine russische Jüdin, die als Jugendliche mit ihrer Familie nach Frankreich emigrierte und 1942 von den Nazis verhaftet, deportiert und ermordet wurde, umkreist in ihrem posthum erschienenen Roman „Suite Française“, der während der deutschen Besetzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg spielt, kongenial die Spannungen zwischen Individuen und ihren gesellschaftlichen Rollen. „Man weiß doch, dass der Mensch ein komplexes, vielschichtiges, gespaltenes Wesen voller Überraschungen ist, aber es bedarf einer Zeit des Krieges oder großer Umwälzungen, um es zu erkennen“, heißt es dort. Nationale Zugehörigkeit, gesellschaftliche Stellung und Sozialisierung oder das Geschlecht: all das prägt, kann einen aber auch in einen Krieg mit sich selbst stürzen – zumal wenn auch außen ein Krieg tobt, der aus einer Frage nach der eigenen Identität und Loyalität mitunter eine Frage von Leben und Tod macht.
Némirovsky spielt solche Kriege abseits der eigentlichen Front in verschiedenen Variationen durch. Der Film von Saul Dibb übernimmt davon nur einen kleinen Ausschnitt. Er greift sich den Haupthandlungsstrang aus Teil 2 des Romans und modifiziert ihn, um etwas zu erzählen, was neben der literarischen Erfindung Némirovkys auch deren eigene tragische Lebensgeschichte mitreflektiert. Ganz direkt geschieht das in einer Nebenhandlung um eine aus Paris geflohene Jüdin (Alexandra Maria Lara), die in dem Provinzort, in dem Lucile lebt, untergetaucht ist. Indirekt geschieht es durch eine Verschärfung des Bedrohungspotenzials: Während die Figuren im Roman öfters fast vergessen können, dass die jungen Männer, die für ein paar Monate bei ihnen untergebracht sind, die Heermacht des mörderischen NS-Staats darstellen, bleibt dies im Film immer präsent und lässt sich auch aus der Romanze zwischen Lucile und Bruno nie ganz verbannen. Wobei sich die Wahl des Hauptdarstellers Matthias Schoenaerts auszahlt, der zwar den kultivierten Feingeist der Romanvorlage zu verkörpern versteht, mit seiner die zarte Michelle Williams dominierenden schweren Physis seiner Figur aber auch eine Aura von Brutalität vermittelt.
Wo der Roman von einem menschlichen Kosmos erzählt, in dem es viele moralische Schattierungen, aber kein Schwarz und Weiß gibt, sieht der Film sehr wohl häufig schwarz. Die Briefe, mit denen Franzosen ihre Mitbürger bei den deutschen Eroberern denunzieren, spielen eine wesentlich prominentere Rolle als im Buch, und manche Nebenfigur (vor allem Tom Schilling als schmierig-grausamer Jungoffizier) geben eindimensional-schlichte Antagonisten ab. Während Bruno im Roman gleichzeitig seinen Dienst versehen und Lucile lieben kann, verlangt ihm das Drehbuch eine klare Entscheidung für eine Seite ab. Man kann das als Reduktion jener menschlichen Komplexität verstehen, die Némirovsky beschwört. Oder aber als Stellungnahme des Films zur realen Geschichte, auf den tragischen Tod der Autorin, die sich diese leise, versöhnliche Liebesgeschichte einst ausgedacht hat.