Dieser Film fordert. Die volle Aufmerksamkeit, die volle Konzentration. Und er belohnt: Mit einem anderen, um so vieles interessanteren Blick auf den Irak. „Iraqi Odyssey“ ist ein Mammutprojekt, das zweifellos in der Lage ist, ein völlig neues Bild des vorderasiatischen Staates und dessen wechselvoller Geschichte zu vermitteln. Und zwar mit einer solchen Fülle an Bildern, Tönen, Geschichten, auf so aufwühlende, anrührende, schockierende, spannende und sogar auch mal witzige Weise, dass man sich manchmal überfordert fühlt, vor lauter Input nicht mehr weiß, wohin mit all diesen wichtigen Erkenntnissen – und gleichzeitig gefangen ist von diesem Werk, wie hypnotisiert vor der Leinwand sitzt.
Der Filmemacher Samir – sein Vater ist Iraker, seine Mutter Schweizerin, mit sechs Jahren siedelte er in die Schweiz über – hat nach „Forget Baghdad“ (
(fd 35 855); 2002) erneut seinen irakischen Wurzeln nachgespürt und anhand der Lebensgeschichten seiner über den ganzen Erdball verstreuten Familienmitglieder nichts weniger als ein Epos des Irak gedichtet. Die zehn Jahre, die all dies gedauert hat, merkt man dem Film auch an. Bei den meisten von Samirs Onkeln und Tanten, Kusinen und Halbschwestern hätte bereits ein einzelner Lebenslauf für einen abendfüllenden Film gereicht. Der Autor und Regisseur aber lässt sie alle zu Wort kommen, verwebt ihre Erzählungen, die immer auch Erzählungen des Irak des 20. und 21. Jahrhunderts sind, wie einen großen Geschichtenteppich ineinander. Und macht damit nicht zuletzt seinem Namen alle Ehre: Samir bedeutet „Geschichtenerzähler“.
Die Ebene der auf arabisch, englisch oder deutsch erzählenden Verwandten hinterlegt er – im wörtlichen Sinne, der Film ist stereoskopisch gedreht – mit einer schier unglaublichen Fülle an historischem Material: Wochenschauaufnahmen, private Filme und Fotos, Ausschnitte aus Propaganda- oder populären ägyptischen Spielfilmen, arabische Schlagervideos, Bilder von Revolutionen und Theateraufführungen, Videos von gespenstisch tonlosen Hinrichtungen und fröhlichen Festen, Illustrationen aus einem Schulbuch oder Filmschnipsel aus Viscontis „Rocco und seine Brüder“ (
(fd 10 143); 1960).
Diese Vielfalt ist alles andere als beliebig, sondern illustriert und beglaubigt auf anschauliche Weise das, was Onkel Sabah und Tante Samira erzählen, oder was Samir selbst als Off-Kommentar beisteuert. Ausgangspunkt ist Samirs Großvater, ein mächtiger, aber liberaler Patriarch, Vertreter einer weltoffenen Schicht des Irak in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine prägende Figur hält alles zusammen, er ist der Ankerpunkt vieler Episoden seiner allesamt studierten und stark politisierten Kinder – Samirs Onkel und Tanten. Schwarz-weiß-Fotografien aus den 1950er- und 1960er Jahren zeigen die Tanten beispielsweise als elegante Studentinnen in Begleitung junger Männer in einer modernen Stadt, Bagdad, absolut frei und emanzipiert – vom Schreckensbild des zerstörten heutigen Irak, vom Schreckensbild einer vermeintlich rückständigen islamischen Kultur keine Spur.
Samir zeichnet den Verfall seines Vaterlandes bis heute nach, mehr oder weniger chronologisch, in zahlreichen Kapiteln wie „Revolution“ oder „Die Ungleichheit“. Politische Wechsel, Putsche, neue religiös-ethnische Machtverteilungen, Kriege und „Säuberungsaktionen“ der faschistischen Baath-Partei, die Saddam Hussein an die Macht brachte, führen zu ungezählten Fluchten und erzwungenen Umsiedlungen von Samirs zumeist kommunistischen Familienangehörigen nach Moskau, Auckland, London, Paris oder Buffalo.
Dabei lassen sich durchaus auch (politische) Konfliktlinien innerhalb der Familie erkennen: etwa zwischen den überzeugten Kommunisten und dem jeglicher Ideologie kritisch gegenüberstehenden Onkel Sabah. Oder zwischen Samirs Halbschwester Souhair, die im US-amerikanischen Exil etwas ungemein Verlorenes an sich hat und von einer Rückkehr in den Irak träumt, und den älteren Verwandten, die voller Resignation auf ihre einstige Heimat blicken. Es gibt auch Widersprüche innerhalb der mündlich tradierten Familienlegenden. Außerdem ist der Recherche- wie Produktionsprozess Teil des Films selbst geworden, sei es in Form erfolgloser Gesprächsanfragen innerhalb der Familie, sei es in Gestalt der bisweilen sichtbaren Dreharbeiten: „Iraqi Odyssey“ ist also alles andere als monolithisch, und doch wirkt dieser mutige Film wie aus einem Guss.
In den meisten deutschen Kinos wird das 162-minütige 3D-Epos nur in einer stark gekürzten 90-Minuten-Fassung und in 2D zu sehen sein wird. Das ist mehr als schade. Zumal der Film in der Schweiz, wo Samir lebt, mit enormen Zuschauerzahlen erstaunliche Erfolge feierte, und zwar in der Originalfassung.
Vgl. dazu auch „Was, wenn nicht das, ist Kino“