Dokumentarfilm über das Schicksal irakischer Juden, die Ende der 1950er-Jahre aus ihrer Heimat ausgewiesen wurden, verdichtet zu einem Essay über die Heimatlosigkeit, die durch die Zugehörigkeit der vier Porträtierten zu sprachorientierten Berufen auf eine nicht unbedingt repräsentative Spitze getrieben wird. Eine Überfülle an Informationen durch verschiedene Bildebenen, Untertitel und einen "voice over"-Kommentar macht das Anliegen des Regisseurs zwar transparent, seinen extrem komplexen Film aber entsprechend anspruchsvoll und dabei gelegentlich schwer verständlich. (O.m.d.U.)
Forget Baghdad
- | Schweiz/Deutschland 2002 | 112 Minuten
Regie: Samir
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Filmdaten
- Originaltitel
- FORGET BAGHDAD | NEW WORLD ORDER
- Produktionsland
- Schweiz/Deutschland
- Produktionsjahr
- 2002
- Produktionsfirma
- Dschoint Ventschr/SRG/Idée suisse/DRS/Teleclub/Tag-Traum/WDR
- Regie
- Samir
- Buch
- Samir
- Kamera
- Nurith Aviv · Philippe Bellaïche
- Musik
- Rabih Abou-Khalil
- Schnitt
- Nina Schneider · Samir
Heimkino
Diskussion
Fast scheint es, als hätte sich der Schweizer Filmemacher und Produzent Samir, Gründungsmitglied der ebenso rührigen wie erfolgreichen Produktionseinheit Dschoint Ventschr, für seinen neuesten Dokumentarfilm einen überaus programmatischen Titel gewählt. Denn dem amtierenden US-Präsidenten könnte derzeit wohl nichts Besseres passieren, als dass die Weltöffentlichkeit die irakische Hauptstadt Bagdad vergessen würde; und auch der englische Premierminister Tony Blair hätte gegen den Effekt des Wegsehens wahrscheinlich wenig einzuwenden. Samir, Exil-Schweizer muslimischer Abstammung und im Irak geboren, meint mit „Forget Baghdad“ aber etwas ganz anderes. Er hat einen Film über den Verlust von Heimat gedreht und über die Probleme, neue Wurzeln zu schlagen. In seinem experimentellen Dokumentarfilm erzählt er die Geschichte der irakischen Juden seit Mitte der 1920er-Jahre, wobei er den Fokus auf die Tätigkeit und das Schicksal der kommunistischen Partei im Irak legt: vier Heimatvertriebene und die geschwätzige New Yorker Wissenschaftlerin Ella Habiba Shohat stehen Rede und Antwort, doch der Erkenntnisgewinn hält sich in Grenzen. Man erfährt zu viel über das Schicksal einiger weniger, wobei es kaum gelingt, für dieses Problem einer sehr speziellen Migration zu sensibilisieren. Wurden etwa jüdische Auswanderer aus der Sowjetunion nach der israelischen Staatsgründung dort mit offenen Armen empfangen, behandelte man arabische Juden als Menschen zweiter Klasse. Die Sonderbehandlung arabischer Juden beispielsweise, die nach ihrer Zwangsausweisung Ende der 1950er-Jahre nach Israel kamen und sich dort als erstes einer Entlausung unterziehen mussten, spricht Bände. Samir verdichtet die Porträts seiner vier Protagonisten zu einer Studie über Entwurzelung, deren Wunden auch heute noch längst nicht vernarbt sind. So konnten sie sich zwar im Alltag einrichten, doch das Stigma, Juden zweiter Klasse zu sein und wegen ihrer politischen Gesinnung missachtet worden zu sein, schmerzt nachhaltig. Besonders augenfällig wird dies beim Schriftsteller Samir Naqash, der trotz diverser Literaturpreise weder in Israel noch in der arabischsprachigen Welt einen Verleger findet. Eine Vertreibung, die andauert. „Forget Baghdad“ gibt sich als eher sanftes Pamphlet, das Betroffenheit spiegelt, ohne wirkliche Anteilnahme einfordern zu können, da sich die Absurdität dieses besonderen Rassismus nur selten vermittelt.
Dem steht schon die Machart des in der Schweiz bejubelten Films entgegen, da sich die Informationen durch die Split Screen-Sequenzen mit deutscher Untertitelung und zusätzlicher „voice over“-Stimme von Samir nahezu überschlagen. Samir hetzt den überforderten Zuschauer durch einen Film mit ausgeklügelter Optik, die kaum Einzelbilder verwendet und schon durch die Aufteilung der Leinwand eine gewisse Dialektik herzustellen versucht. Dazu werden den Statements der Betroffenen schwarz-weiße Erinnerungs- und Jugendfotos zugeordnet, die geschichtliche Verknüpfungen und persönliche Betroffenheit dokumentieren sollen, den Zuschauer jedoch durch ihren multiplizieren Informationsgehalt schlicht überfordern. Weniger wäre hier - im Dienst der Sache – sicher mehr gewesen. „Forget Baghdad“ belegt so einmal mehr, dass sich der Segen digitaler Aufnahmetechniken auch zum Fluch wandeln kann: Die Bilderflut verstellt den Blick auf das, was man mitteilen möchte. Dass dies nicht immer der Fall sein muss, illustriert der von Samir produzierte essayistische Spielfilm „Birdseye“, in dem er ein ähnliches Konzept anwandte – das dort wunderbar funktionierte.
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