Der Schnee flirrt. Je nachdem, ob er in der Bergsonne strahlt oder im Schatten liegt, stehlen sich Anteile von Blau- und Grau-, Gelb, Ocker oder Rosé-Tönen in die weißen Pinselstriche. Die Art, wie Giovanni Segantini die Alpweiden und Berge malt, gibt ihnen eine plastische, sinnliche Struktur und gleichzeitig ein diaphanes, lebendiges Leuchten, das man aus den Werken der Impressionisten kennt. Ein Effekt, der dadurch entsteht, dass die Farbe nicht auf der Palette gemischt wird, sondern sich erst im Auge des Betrachters zusammensetzt. Christian Labharts dokumentarischer Filmessay kriecht immer wieder förmlich hinein in die Hochgebirgspanoramen. Die Kamera verharrt wie gebannt davor, und sie geht ganz nahe heran: Holz, Gras, Himmel, ein menschliches Gesicht. Seltsam friedvolle Bilder mit wenigen Menschen in erhabener Natur, bei denen selbst Szenen um Schmerz und Trauer aufgefangen scheinen von der Schönheit eines größeren Ganzen. Realistischer Symbolismus: sich versenkend in die genaue Beobachtung der alpinen Landschaft und doch immer auch bestrebt, über das Physische hinauszuweisen ins Spirituelle.
„Die Kunst und die Liebe besiegen den Tod“: So steht es auf dem Grabstein des 1899 verstorbenen Künstlers im bündnerischen Maloja. Ein Epitaph, das die Kunstauffassung dieses „Malers des Lichts“, so der Untertitel, reflektiert: Kunst nicht als schlichtes Handwerk, sondern als Manifest von etwas „Höherem“, Idealem. Kunst ohne Ideal ist wie Natur ohne Leben, heißt es an einer der Stellen, an denen Bruno Ganz aus dem Off aus autobiografischen Schriften und Briefen des Künstlers vorliest. Und: „Macht die Kunst zum Gottesdienst. Sie muss jene Leere füllen, die die Religionen uns gelassen haben.“
Labhart „erklärt“ Segantinis Leben und Werk nicht, er ordnet nicht ein. Er versucht vielmehr, den Lebens- und Kunstkosmos Segantinis erlebbar zu machen, einen Kosmos, der höchst eigenwillig-individuell ist und doch auch immer wieder über Segantini hinaus aufs 19. Jahrhundert verweist und seine Ideengeschichte. Historische Fotos des Künstlers, seiner Familie und der Orte, an denen er lebte, treffen auf aktuelle Impressionen von Segantinis Lebensstationen (Arco, Mailand und Brianza in Italien, Savognin und Maloja im schweizerischen Oberhalbstein und im Engadin). Dazu mischen sich auf der Tonebene Selbstzeugnisse von Segantini, Ausschnitte aus dem biografischen Roman „Das Schönste, was ich sah“ von Asta Scheib (gelesen von Mona Petri), atmosphärische Geräusche sowie sakral-meditativ anmutende Musik (teils von Bach und Mozart, teils von Paul Giger, der die Stücke zusammen mit dem Carmina Quartett in der Chesa Bianca in Maloja eingespielt hat).
Den erzählerischen roten Faden liefert Segantinis bewegte Biografie, von einer traurigen Kindheit und dem traumatischen frühen Tod der Mutter bis hin zum tragischen Sterben des Künstlers in einer Engadiner Berghütte. Dort arbeitete Segantini an der Vollendung seines bekanntesten Werkes, des zur Weltausstellung in Paris angemeldeten Triptychons „Werden – Sein – Vergehen“, als er den Folgen eines Blinddarmdurchbruchs erlag. Die Liebe zu seiner Frau Bice und zur gemeinsamen Familie, mit der Segantini die Einsamkeit seiner Kindheit hinter sich ließ, die Verehrung der Natur, die in Segantinis Vorstellungswelt ebenso wie der Kunst quasi-religiöse Würde zugesprochen wird, und das Streben nach unbedingter Freiheit und künstlerischer Selbstverwirklichung werden dabei als innere Leitsterne sichtbar, an denen Segantini sich ausrichtete – immer im Kampf mit den bedrängenden materiellen Realitäten, denen sich der wegen Kriegsdienstverweigerung zeitlebens staatenlose, politisch dem Sozialismus und Anarchismus zugewandte Künstler zu stellen hatte (was ihm nur deshalb gelang, weil ihn ein befreundeter Mailänder Kunsthändler finanziell unterstützte).
Labhart und seine künstlerischen Mitstreiter machen daraus eine meditative Hommage an den Künstler. Diese erschließt einen sehr sinnlichen und direkten Zugang zu seinen Arbeiten und eröffnet durch die Verschränkung von Werk, biografischer Erzählung und Selbstaussagen diskrete Interpretationsangebote. Mancher mag es vermissen, dass Labhart darauf verzichtet, durch Interviews mit Experten oder Stellungnahmen von Kollegen und Wegbegleitern eine kunsthistorische Einschätzung dieses „Gauguin der Alpen“ zu leisten; dass es dem dokumentarischen Essay gelingt, Segantinis Werk förmlich lebendig zu machen, ist letztlich jedoch die größere Leistung – und sicher mehr im Sinne des Künstlers.