Der Verfall, so erzählt es die Mutter, setzte unmittelbar ein, nachdem ihr Sohn von den Milizen fortgeschafft und auf bestialische Weise ermordet wurde. Innerhalb weniger Tage hat ihr Mann alle Zähne verloren, sie waren ihm einfach ausgefallen, einer nach dem anderen. Auch hörte er auf zu sprechen. Heute gibt der bis auf die Knochen abgemagerte, taube und blinde Mann vor, 16 Jahre alt zu sein. An Ramli, seinen ältesten Sohn, kann er sich nicht mehr erinnern, wohl aber an ein Liebeslied aus seiner Jugend.
Das Schweigen und die Flucht vor der Vergangenheit ziehen sich als kommunikative und mentale Verweigerungs- und Überlebensformen motivisch durch den Film von Joshua Oppenheimer. Zu finden sind sie nicht nur bei den Opfern, die immer noch Angst haben zu sprechen (die meisten indonesischen Partner und Mitarbeiter werden im Abspann unter „anonym“ aufgeführt), sondern ebenso bei den Tätern, ehemalige Mitglieder der paramilitärisch organsierten Todesschwadronen, die in Indonesien nach dem Militärputsch 1965 die Ermordung von über einer Million vermeintlicher Kommunisten ausführten. Auf der anderen Seite gibt es den schrillen Lärm, der die Horrorerzählungen der Mörder begleitet. Mit dem Einsatz ihres ganzen Körpers und an der Grenze zum höhnischen Slapstick stellen sie ihre Taten nach. Ein Schlächter unterbricht seine drastischen Schilderungen immer wieder mit kurzen, hysterischen Lachsalven.
„The Look of Silence“ ist die notwendige Fortschreibung und Ergänzung des Vorgängerfilms „The Act of Killing“
(fd 42 034). Oppenheimer überließ darin den Tätern das Feld für ein ebenso obskures wie erkenntnisförderndes Reenactment, in dem auch die Rollen der Opfer mit den Mördern besetzt waren. „The Look of Silence“ gibt nun den Opfer-Familien eine Stimme. Doch diese ist leise und durch Jahrzehnte der zwangsweisen Verstummung schwer belegt.
Investigativer Protagonist des Films, im Abspann als Oppenheimers namenloser Co-Regisseur aufgeführt, ist der Optiker Adi, Ramlis jüngerer Bruder und nach dem Genozid geboren. Er bringt seine Mutter dazu, über das Trauma zu sprechen und forscht in der unmittelbaren Nachbarschaft nach den Spuren der Massaker. Mit einem der Überlebenden besucht er das Ufer des Schlangenflusses, dem Ort, an dem Zehntausende, darunter auch Ramli, verstümmelt und ermordet wurden. In seinem Onkel entdeckt er den ehemaligen Gefängniswärter des Bruders, der sich mit schwachen Erklärungen aus der Verantwortung herausredet. Wiederholt ist Adi still und mit fragendem Gesicht vor einem Fernseher zu sehen, wie er sich die Interviews mit den Mördern ansieht und zu begreifen versucht, was nicht zu begreifen ist. Diese Ebene des verdoppelten Blicks ist wichtig, da sie einen Raum aufmacht für Distanznahme und Reflexion – in einem Film, zu dessen Affektproduktion der Schock und das Entsetzen maßgeblich dazugehören.
Geduldig, aber sich nicht mit einfachen Antworten zufriedengebend, sucht Adi die Täter auf. Einer berichtet, dem Wahnsinn nur durch das Trinken von Opferblut entronnen zu sein; an die Mischung aus süß und salzig kann er sich lebhaft erinnern. Aberglaube und Unwissenheit ist in den Erzählungen so präsent wie die Ausflüchte und das Fehlen jeglichen Schuldeingeständnisses. Wie wackelig das Täterkonstrukt tatsächlich ist, zeigt sich jedoch, wenn Adi Widersprüche aufdeckt und nachhakt. „Ich mag keine tiefgehenden Fragen“, meint einer der interviewten Mörder plötzlich sehr aufgebracht. „Sie haben weitaus tiefer gehende Fragen gestellt, als Joshua es je getan hat.“
Eine Aussicht auf Entlastung gewährt „The Look of Silence“ nicht – außer vielleicht in Adis Sanftheit, seiner Bereitschaft, den Mördern gegenüberzutreten und mit ihnen zu sprechen, seiner kompromisslosen Menschlichkeit. Und das in einem noch immer moralfreien Raum, in dem sich die Täter weiterhin als Helden selbstdarstellen. Die Anführer der Kommandos sitzen nach wie vor an den Schaltstellen der Macht und kontrollieren die offizielle Geschichtsschreibung. So müssen die Familien der Opfer nicht nur damit leben, Tag für Tag von den Mördern ihrer Angehörigen umgeben zu sein, sondern auch von den kollektiv am Leben gehaltenen Lügen. Der Völkermord ist als solcher nicht anerkannt, die Schuld wird an die Opfer weitergegeben. Eine Szene zeigt Adis Sohn in der Schule, ein Lehrer erklärt, Kommunisten seien ungläubig und grausam. Darauf die ganze Klasse im Chor: „grausam“. Die Vergangenheitsbewältigung, so zeigt „The Look of Silence“ eindrücklich, ist immer auch eine Gegenwartsbewältigung. Auf dem Schulhof erzählen sich die Kinder Geschichten von zerquetschten Augen und aufgeschlitzten Wangen.