Er sei nicht achtsam gewesen. Deshalb habe er den fremden Mann, der ihn auf der Straße angerempelt hatte, zusammengeschlagen. Das bekennt ein ansonsten scheinbar sanfter Yoga-Lehrer gegenüber seiner Freundin, einer erfolglosen Malerin, die an seiner sexuellen Enthaltsamkeit zu zerbrechen droht. Orale Befriedigung gesteht er ihr zwar zu, weswegen all ihre Bilder die Vulva großformatig ins Visier nehmen, aber den Beischlaf verweigert der Erleuchtete, um den hohen Anforderungen seines Gurus zu genügen. Als er trotz aller hart umkämpften Askese wegen der sich häufenden Gewaltausbrüche zurück nach Indien flüchten möchte, stürzt sich die im Umgang mit anderen nicht gerade zimperliche Künstlerin aus dem Fenster und landet mit gebrochenem Arm im Krankenhaus.
Das tragikomische Paar steht für eine von gleich mehreren Liebeskonstellationen in Vanessa Jopps neuer Gesellschaftssatire, die mit erstaunlicher Treffsicherheit den um sich greifenden Narzissmus der Mittelschicht unter die Lupe nimmt. Einer seiner Nebeneffekte ist ja die Gleichgültig gegenüber den Nöten des Umfelds. Die beste Freundin der Malerin etwa, eine kontrollsüchtige Zahnärztin, sieht sich kurz vor der Hochzeit von Zweifeln geplagt, ob sie die richtige Wahl getroffen habe. Gereizt von der stressigen Situation, entlässt sie ihre Aushilfe, eine junge Russin, die regelmäßig Geld an ihre Familie schickt und ihrem Bruder 3000 Euro beschaffen soll, angeblich für eine Operation des Vaters.
Dass die Probleme anderer sie nichts angehen, signalisiert die Zahnärztin mit abweisender Kälte auch ihrer Nachbarin, die sozialen Anschluss sucht und sich schließlich im Stockwerk über der Praxis das Leben zu nehmen versucht.
Vom Suizid-Versuch unangenehm betroffen ist aber nur der angehende Bräutigam. Was für die Ärztin nur ein Grund mehr ist, sein Vorleben zu studieren, zumal der Immobilienverkäufer auf einmal die Hochzeitsringe nicht bezahlen kann. Dafür erwidert er in den gemeinsam absolvierten Yoga-Stunden aber den Blicke der Mitturnerinnen allzu willig und verschweigt überdies den Verlust seines Führerscheins, der ihm nach einer durchzechten Nacht im Puff entwendet wurde.
Den amüsanten Reigen an fatalen Kettenreaktionen vervollständigt der grandiose Auftritt von Elisabeth Trissenaar. Als ihre Tochter in der Praxis seelisch zu kollabieren droht, springt sie, selbst Zahnärztin, ihr zu Hilfe, nicht aber ohne dabei eine Tirade an Vorwürfen und enttäuschten Erwartungen abzuwerfen.
Alle Figuren in dieser atmosphärisch abgestimmten, sich angenehm Zeit lassenden Komödie sind Täter und Opfer zugleich. Sie reden aneinander vorbei, hören sich nicht zu, oder stellen sich in einem besseren Licht dar, als es die Realität hergibt. Jede Rolle ist perfekt besetzt; selbst Thomas Heinze meistert den Part des vergeblich den strengen Vorgaben seiner Partnerin gehorchenden Bauchmenschen mehr als überzeugend. Dank erfrischend lebensnah improvisierter Dialoge und des gut geölten Ensembles, allen voran die in jüngster Zeit erfreulich wandlungsfähige Meret Becker, bereiten diese uneitel fotografierten Chaos-Tage im großstädtischen Milieu kurzweiligen Genuss, ohne indes auf Szenen zu verzichten, die von einer geradezu menschelnden Wahrhaftigkeit à la Ingmar Bergman getragen sind. Da sieht man dann großzügig über die Anhäufung dramaturgisch wertvoller Zufälle ab oder die allzu berechnend eingestreuten Rührseligkeiten im Finale.
„Lügen und andere Geheimnisse“ ist beileibe kein Meisterwerk, aber eine im besten Sinne unterhaltende Bestandsaufnahme heutiger Unzulänglichkeiten auf dem anstrengenden Weg der Selbstoptimierung.