Nach einem kurzen Prolog, in dem sich eine einzelne Zelle teilt und rasend vermehrt, wirft Regisseur Luc Besson den Zuschauer in eine düstere Geschichte, die wie ein Mix aus brutalem Drogenkrimi und wilder Science-Fiction-Fantasie anmutet. Lucy, eine amerikanische Studentin in Taipeh, wird von ihrem neuen Lover genötigt, in einem Hotel einen Aktenkoffer an Mr. Jang zu übergeben, den Boss der lokalen Mafia. Mr. Jang dealt mit CHP4, einer blau glitzernden Wunderdroge. Und er versteht keinen Spaß: Er lässt Lucy und drei weiteren Männern ein Päckchen CHP4 in den Bauch einnähen, um sie als unfreiwillige Drogenkuriere nach Europa zu schicken. Doch die Tüte reißt, weshalb das Rauschgift ungehindert in Lucys Blutbahn dringt, die eine unglaubliche Wandlung durchmacht. Mit übermenschlichen Fähigkeiten, sowohl körperlich als auch geistig, entkommt sie ihren Widersachern und dreht den Spieß um. Doch Mr. Jang will seine Drogen zurück. In Paris kommt es zum ruppigen Showdown.
„Lucy“ ist zuallererst ein Film von Luc Besson, mit allen Zutaten, die man von ihm seit „Nikita“
(fd 28 396) kennt: eine schöne, starke Frau mit beidhändiger Schusskraft, übertrieben skrupellose Gangster, die ihren Forderungen mit großem Kaliber Nachdruck verleihen, aufregende Verfolgungsjagden und turbulente Schießereien. Doch außer reueloser Unterhaltung wollte Besson diesmal ein wenig mehr, weshalb in einer Parallelhandlung Morgan Freeman als weiser, soignierten Professor eingeführt wird, der vor Studenten über das Gehirn, dessen Kapazitäten und ihre tatsächliche Nutzung referiert: Menschen würden nur zehn Prozent ihrer wahren Möglichkeiten ausschöpfen. Was aber wäre, wenn sie es auf 100 Prozent brächten? Die Figur des Professors ist allerdings nur dazu da, um die Gehirnfunktionen mit den Folgen der Designerdroge in Beziehung zu setzen, damit der Zuschauer wenigsten ein bisschen von dem glaubt, was ihm Bessons irrwitzig-bizarre Story zumutet.
Die Vorlesungen nehmen allerdings auch die Luft aus dieser über die Stränge schlagenden Superhirn-Action-Mär. Je mehr Freeman erklärt, desto weniger hört man ihm zu. Warum auch? Dass Lucy, inzwischen zum gottgleichen Wesen mutiert, das mit purer Willenskraft 20 Gangster an der Decke eines Krankenhausflures festhält, ist mit Worten nicht zu begreifen.
Besson hat sich viel vorgenommen. Er reflektiert über Evolution und menschliche Intelligenz, über ungenutzte Chancen und tierische Instinkte. Wenn Lucy, benannt nach dem ältesten weiblichen Skelett, das 1974 in Afrika gefunden wurde, im Leopardenrock Mr. Jangs Hotelsuite entert, schneidet er Dokumentaraufnahmen von jagenden Raubtieren dazwischen – eine eher neckische denn erhellende Idee. Trotzdem hat der Film einiges zu bieten, allen voran Scarlett Johansson, die ähnlich wie in „Under the Skin“ von Jonathan Glazer eine enigmatische Frau mit unterkühlter, veräußerlichter Sexualität spielt, die den Männern hoffnungslos überlegen ist und alles Menschliche, insbesondere Gefühle, hinter sich gelassen hat. Originell ist auch die Autoverfolgungsjagd durch Paris, bei der Lucy aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeiten jeden möglichen Unfall voraussieht und wie ein rasender Ruhepol durch den Gegenverkehr jongliert. Gleichzeitig aber macht diese Szene auch deutlich, wie Besson zwischen kinetischer Attraktion und intellektueller Unterfütterung keine Balance findet. Das Resultat ist ein unausgewogener Thriller, ganz so, als hätte Besson nur zehn Prozent seines inszenatorischen Potenzials genutzt.