Zuerst: ein Bild, wie gemalt. Eine Flusslandschaft im Abendrot, eine Windmühle, zwei Frauen in holländischer Tracht. Mit ihnen setzt sich die Kamera in Bewegung, schwenkt und fokussiert auf einen Mann, der am gegenüberliegenden Ufer in sein Skizzenbuch zeichnet. William Turner (1775-1851), sagt diese großartig-lakonische Eröffnung, übersieht das konventionell komponierte, noch ganz im frühen 19. Jahrhundert verhaftete Bild der Kamera. Doch dieser Künstler, der bedeutendste britische Maler seiner Zeit, sieht etwas ganz Anderes. Was das ist, schildern Turners gewaltige, zugleich luftig-atmosphärische, Licht und Farbe auf revolutionäre Weise preisende Gemälde.
Mike Leigh weicht in seinem Bio-Pic, das die letzten 25 Lebensjahre des Künstlers umfasst, den Werken des Malers jedoch eher aus. Er zeigt sie nur en passant; die ästhetische Feier dieser solitären Kunst überlässt er lieber der Dokumentarabteilung des BBC. Turner, der bislang noch nie Gegenstand eines Spielfilms war, wird das große Glück zuteil, bei seinem ersten Auftritt auf der Leinwand an einen Regisseur mit einem unkonventionellen, charakterstarken Konzept geraten zu sein. Wo ein Meister wie Vincente Minnelli in »Vincent van Gogh – Ein Leben in Leidenschaft« den Künstlermythos mittels Technicolor den van-Gogh-Gemälden nachpinselte, tut Leigh knapp 60 Jahre später so ziemlich das Gegenteil. Der britische Regisseur verzichtet auf Mythos und Verklärung.
Es finden sich durchaus Bildkader, die Turner-Werken nachempfunden sind. Mithilfe von CGI-Verfahren zeigt Leigh etwa, wie im Jahr 1838 das Schlachtschiff HMS Temeraire von einem kleinen Schlepper zum letzten Liegeplatz verfrachtet wird. Das entspricht dem Blickwinkel des zufällig in einem Ruderboot sitzenden Turner im Moment der Inspiration für ein späteres Werk: Mit »The Fighting Temeraire« vollendete Turner 1839 eines seiner berühmtesten Bilder. Doch Leigh und sein Kameramann Dick Pope schaffen kein Surrogat für die gespenstische Stimmung des Originals. Weitgehend verzichtet ihr Film auf die Nachschöpfung von Turner-Bildern; wo sie auftauchen, sind sie eher kurze Einsprengsel in einem sehr realistischen Bio-Pic, das sich für die Malerei als Praxis, für den schuftenden Maler und sein alltägliches Umfeld interessiert: die Familie, die Mitarbeiter, die Kollegen der Royal Academy, die tatsächlichen und potenziellen Käufer, die adeligen Mäzene, die Kritiker.
Vielleicht rechtfertigt die eher undramatische, auf innere und äußere Bewegungen statt auf überwältigende Tableaus setzende Struktur des mächtigen Films die durchaus zwiespältige Wahl der digitalen Kamera. Sie erweist sich nur bedingt als »Meisterin des Lichts«, liefert harte, überscharfe, dem Sujet eigentlich widersprechende Eindrücke. Ausgerechnet bei einem Malerfilm verzichteten Leigh und Pope zum ersten Mal auf das klassische 35mm-Ausgangsmaterial. Womöglich fiel die Entscheidung für den Arriraw-Prozess nicht ganz freiwillig, soll die Finanzierung des Projekts doch lange Zeit auf der Kippe gestanden haben.
Als perfekte Wahl erweist sich allerdings Timothy Spall in der Titelrolle. Für die Intention des Films, nahe an Turner heranzuführen und den Blick doch immer wieder an der harten Schale dieses schwierigen Menschen abprallen zu lassen, ist Spall die ideale Besetzung. Ob Turner tatsächlich so war, wie Spall ihn interpretiert, ist dabei nebensächlich, weil der bislang auf Nebenrollen festgelegte Darsteller jeden Zweifel an der Kinowirklichkeit seiner Kreation beiseite fegt. Minutiös vorbereitet – zwei Jahre lang trainierte Spall bei einem Profi das Malen –, verkörpert Spall ein Künstlertum jenseits des Geniekults. Malerei, das zeigen eine Reihe Szenen mit den Konkurrenten innerhalb und außerhalb des akademischen Zirkels, war schon immer ein Geschäft und bisweilen pure Plackerei, »Trial and Error«, Drecksarbeit.
Spalls Turner, durch und durch ein Spross der Londoner Arbeiterklasse, ist ein schroffer, skeptischer, mitunter verächtlicher Charakter, der in privaten Momenten aber immer wieder mit unbeholfener Zärtlichkeit überrascht. Die Begegnungen zwischen dem Künstler und seinem Vater sind von großer Wärme getragen, ebenso die glückliche Beziehung des alternden Turner mit seiner früheren Zimmerwirtin Sophia Booth. Schlichtweg genial setzt Leigh die Idee um, die heimliche Quasi-Ehe des späten Paars schneidend mit der Einsamkeit von Turners Haushälterin Hannah Danby zu kontrastieren. Hannah vergöttert Turner. In dessen letzten Lebensjahren muss sie das Haus ihres Herrn alleine hüten. Turner kommt nur noch sporadisch vorbei, weil Booth ihm ein neues Heim eingerichtet hat. Im alten Atelier und dem Bilderlager tropft es durch die Decke, Hannah schleicht wie ein Gespenst durch die verwahrloste Wohnung. Das Gesicht dieser bemitleidenswerten Figur wird zunehmend von einem Ekzem entstellt. Wäre Hannahs möglicherweise durch den Dauerkontakt mit giftigen Farbpigmenten bedingte Hautkrankheit nicht eine historische Tatsache, würde man eine Reminiszenz an Oscar Wildes »Bildnis des Dorian Gray« vermuten. Wobei Leighs Thema hier nicht das verborgene Laster, sondern die Tragik ungelebten Lebens ist.
Interessanterweise wird das traurigste Schicksal einer Nebenfigur aufgebürdet, anstatt den Lebenslauf des Malers selbst zum melodramatischen »Künstlerdrama« zu verbiegen. Leigh behauptet weder, dass seine Hauptfigur übermenschlich leiden muss, noch lässt er dem hochtalentierten Turner die Meisterwerke nur so in den Schoß fallen. Leighs Realismus entsteht dabei nicht durch sklavische Geschichtstreue, sondern durch den Verzicht auf ein vorgefertigtes Skript. Auch diesmal hat der Regisseur ein Ensemble vertrauter Darsteller um sich geschart. Neben Timothy Spall, den Leigh in »Das Leben ist süß« erstmals einsetzte, sind Ruth Sheen als Turners keifende Ex-Geliebte und Lesley Manville als urige Wissenschaftlerin Mary Sommerville zu sehen. Ihre Performance prägt den Plot entscheidend, da sie Szene für Szene viele Handlungsdetails während der Proben erschaffen. Produktiver als Mike Leigh hat wohl noch kein Regisseur seine Theatererfahrungen in die Filmarbeit eingebracht. Dass »Mr. Turner« ein Künstlerdrama im besten Sinn geworden ist und kein Bilderbogen in Ehrfurcht erstarrter Tableaus, macht ihn zum Ausnahmewerk in der bisherigen Geschichte des Künstlerfilms.