Aus Belleville, New Jersey, führen 1951 nur drei Wege hinaus: der Gang zur Armee, der Beitritt zur Mafia oder der unwahrscheinliche Aufstieg zur Berühmtheit. Tommy DeVito, ein junger kesser Draufgänger aus dem italo-amerikanischen Armenviertel, versucht es auf zwei Wegen zugleich: als Handlanger des Gangsterbosses Gyp DeCarlo, aber auch als Musiker, der mit seiner Band vom Durchbruch träumt. Der musikalische Erfolg rückt näher, als DeVito sich des jungen Friseursohns Frankie Castelluccio annimmt, der ebenfalls schon mit einem Bein in der kriminellen Szene steht, aber auch mit einem außerordentlichen Stimmtalent gesegnet ist. Sein im höchsten Falsett noch zu virtuosen Modulationen fähiger Tenor wird das Markenzeichen des Sängers, der seinen Nachnamen in Valli ändert und zusammen mit DeVito nach einer Ochsentour durch die Nachtclubs als Protegé musikbegeisterter Mafiosi von 1960 an mit der Popgruppe „The Four Seasons“ zu Weltruhm gelangt.
Gerade die absolute Unwahrscheinlichkeit dieser gleichwohl auf wahren Begebenheiten beruhenden Geschichte dürfte Clint Eastwood gereizt haben, die Regie bei der Leinwandadaption der musikalischen „Four Seasons“-Biografie „Jersey Boys“ zu übernehmen. Musik spielt im Leben des inzwischen 84-jährigen Eastwood bekanntermaßen eine mindestens ebenso wichtige Rolle wie seine Arbeit fürs Kino - was zu seinen Cowboy- und Dirty-Harry-Zeiten wohl auch kaum jemand vermutet hätte. Dass der Jazz-Fan und Amateur-Pianist, der für viele seiner Filme die Musik selbst komponierte, mit „Bird“ (fd 27 176; über den Jazz-Saxophonisten Charlie Parker) bislang nur eine einzige Musiker-Biografie gedreht hat, mutet geradezu seltsam an. Im Gegensatz zu dem zwischen den Zeitebenen springenden Charlie-Parker-Film ist „Jersey Boys“ weitgehend chronologisch angelegt und in Eastwood-Manier recht gradlinig als Auf- und Abstiegsstory inszeniert. Darin hebt sich der Film deutlich von seiner Bühnenvorlage ab, einem in den USA und Großbritannien extrem erfolgreichen „Jukebox Musical“, bei dem die Songs der „Four Seasons“ auch die Handlung um berufliche wie private Verwicklungen der Bandmitglieder untermalen.
Eastwood erzählt gewohnt entschleunigt, aber sehr sorgfältig, und lässt sich Zeit, um zu zeigen, wie die Musiker nach „ihrem“ Sound suchen, wie sie einen Plattenvertrag, den Bandnamen und endlich auch Erfolg finden – aber auch, wie der Zwist zwischen Frankie Valli und Tommy DeVito um die Leitung der Band mit den Ambitionen des Songwriters und Keyboarders Bob Gaudio und dem gekränkten Ego des Bass-Gitarristen Nick Massi kollidiert. Dass DeVito nie ganz seine Wurzeln kappt und den Durchbruch der Gruppe über seine Kontakte zur Mafia eingefädelt und finanziert hat, die nun auf Rückzahlung drängt, reißt das fragile Gefüge zwischen den Vier endgültig auseinander; womit der Abstieg vom Gipfel des Ruhms beginnt, der in einer Showbiz-Biografie nicht fehlen darf.
Biografische Filme über Musiker gleichen sich oft in der Abfolge von Szenen aus dem Bühnen- und Privatleben, den Segnungen und Kehrseiten des Ruhms. Auch „Jersey Boys“ entkommt nicht immer der Klischeefalle. Doch Eastwood wäre nicht Eastwood, wenn er nicht auch bei diesem Stoff Schichten aufdecken würde, die weit über die individuelle Bandgeschichte hinausverweisen. So übernimmt er aus der Bühnenvorlage jene Momente, in denen die Schauspieler in direkter Ansprache der Zuschauer das Geschehen kommentieren und Sprünge in der Handlung überbrücken, und macht sie zu augenzwinkernden Illusionsbrüchen, die das Mythenhafte der Geschichte betonen und andeuten, dass die Musiker hier ihre jeweils eigene, subjektive Version der Ereignisse präsentieren.
„Jersey Boys“ funktioniert als selbstbewusste Musiker-Variante zu Scorseses „Good Fellas“
(fd 28 549), als „period picture“, in dem herabgedimmte Farben die Muffigkeit der 1950er- und frühen 1960er-Jahre signalisieren, aber vor allem auch als Bühne für die weitgehend unbekannten, aber vollauf überzeugenden Darsteller. Sensationell ist die Leistung von John Lloyd Young, der für seine Interpretation von Frankie Valli bereits am Broadway gefeiert wurde; doch auch vor der Kamera erweist er sich als Idealbesetzung, vor allem wenn er vorführt, wie Vallis Stimme allmählich reifer und voller wird - von den frühen Szenen, als sie noch nicht ausgebildet ist und sogar noch einen unangenehmen Beiklang hat, bis zu dem legendären Organ mit seinen scheinbar grenzenlosen Ausdrucksmöglichkeiten. Dass Valli und seine noch lebenden Kollegen DeVito und Gaudio bei der Bühnen- und Filmversion ihres Lebens maßgeblich beteiligt waren, lässt das Ergebnis wohl etwas harmonieträchtiger ausfallen als bei einem neutralen Blickwinkel. Das ändert aber nichts daran, dass „Jersey Boys“ die Magie der „Four Seasons“ kongenial erfasst und zu einem bemerkenswerten Unterhaltungsfilm verdichtet hat.