Als in einem abgelegenen polnischen Dorf mitten im Sommer ein Schrottsammler verschwindet, beginnen die Nachbarn, sich an seinem Eigentum zu vergreifen. Sein Haus wird geplündert und bleibt als Ruine zurück. Das eindringliche, wortkarge Drama nutzt die minimalistische Fabel sowie lange Einstellungen und Totalen für ein Gleichnis über Gier und Gewalt. Was während des Zweiten Weltkriegs mit jüdischen Nachbarn geschah, wird parabelhaft in die Gegenwart geholt. Der zutiefst pessimistische Film beschreibt das Fortleben alter Gespenster sowie das über Generationen hinweg ausgeprägte Fehlen jeglichen Schuldbewusstseins, wofür er ebenso geheimnisvolle wie eindringliche Motive findet.
- Sehenswert ab 16.
Ferner schöner Schein
Drama | Polen 2011 | 77 Minuten
Regie: Anka Sasnal
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Filmdaten
- Originaltitel
- Z DALEKA WIDOK JEST PIĘKNY
- Produktionsland
- Polen
- Produktionsjahr
- 2011
- Produktionsfirma
- Anton Kern Gallery/Filmopolis
- Regie
- Anka Sasnal · Wilhelm Sasnal
- Buch
- Anka Sasnal · Wilhelm Sasnal
- Kamera
- Wilhelm Sasnal · Aleksander Trafas
- Schnitt
- Beata Liszewska
- Darsteller
- Marcin Czarnik (Pawel Muraw) · Agnieszka Podsiadlik (Mädchen) · Piotr Nowak (Mirek Kotlarz) · Elzbieta Okupska (Mutter Muraw) · Jerzy Lapinski (Großvater Kotlarz)
- Länge
- 77 Minuten
- Kinostart
- 10.07.2014
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Der 1972 geborene Wilhelm Sasnal ist ein polnischer Maler und Illustrator; seine Avantgarde-Werke wurden unter anderem im Centre Pompidou, in der Tate Gallery, im MoMA oder im Guggenheim Museum präsentiert; seit 2005 dreht er gemeinsam mit seiner Frau Anka Sasnal kurze und längere Filme.
„Ferner schöner Schein“ wirkt denn auch mehr wie ein bewegtes Gemälde, eine Performance als Versuchsanordnung. Die Fabel ist minimalistisch, die Figurenbeziehungen entfalten sich nicht über psychologische Details, es geht vielmehr um ein komplexes Gesellschaftsbild. Thematisiert wird das Verhältnis der Masse zum Individuum und zur Gewalt, jene gruppendynamischen Prozesse, die latent unter der Oberfläche gären und, wenn sie zum Ausbruch gelangen, furchtbar sind.
Ein abgeschiedenes Dorf mitten in den polnischen Wäldern, von der Sommersonne durchflutet und doch wie in Dunkelheit gefangen, wird zum atmosphärischen Spielort eines Dramas, das in die Katastrophe mündet. Hauptfigur ist Pawel, ein Schrottsammler, der mit seiner dementen Mutter in einem Gehöft lebt, bis er sich entschließt, sie fortzubringen. Bald verschwindet auch er selbst; niemand weiß, wohin; eine junge Frau, seine Freundin, wechselt das Laken und schrubbt die Küche. Geredet wird fast nichts, wie der Film überhaupt fast ohne Dialoge auskommt. Umso bedeutungsvoller sind die wenigen Sätze, die meist aus hämischen, missgünstigen Bemerkungen bestehen: Worte ohne Zärtlichkeit. Sie brechen in die langen Totalen eines scheinbar friedvollen Daseins wie Schockmomente ein und legen bloß, dass hinter der Oberfläche der Bilder etwas Gefährliches lauert, eine böse Kraft: der Teufel möglicherweise.
Die zweite Hälfte des Films besteht dann aus einer Orgie der Vernichtung. Erst sind es Pawels Kaninchen, die vom Vater der Freundin gestohlen werden. In der Nacht setzen Plünderung und Zerstörung ein; auf der Tonspur, die ausschließlich natürliche Laute kompiliert und Filmmusik gänzlich ausschließt, ist fernes Hundegebell zu hören. Als die hölzernen Fenster- und Türrahmen von Pawels Haus auf einen Scheiterhaufen fliegen, steht das ganze Dorf ringsum: schweigend, ohne Protest. Alle Spuren der Existenz eines Menschen werden vernichtet, nachdem dessen Eigentum längst unter den Nachbarn aufgeteilt ist. Und am Sonntag sitzen alle betend in der Kirche.
Einmal, beim Abendessen, stellt ein Kind die Frage nach früheren Bewohnern, die im Fluss ertrunken sein sollen. Der Vater erklärt, das sei im Krieg gewesen, erst seien zwei Kinder gestorben, dann die Erwachsenen: „Aber es waren keine Polinnen.“ Das ist nur ein kurzer, flüchtiger Moment des Films, der leicht überhört werden kann und doch den Schlüssel für die Parabel darstellt, die in „Ferner schöner Schein“ verborgen ist. Anka und Wilhelm Sasnal rekurrieren nämlich auf die Verwicklung der polnischen Zivilgesellschaft in Antisemitismus und Holocaust.
Es gab im Zweiten Weltkrieg Dörfer, in denen die deutschen Besatzer den Umgang mit Juden in die Hände der Polen legten. In einer Gemeinde wurden die jüdischen Mitbürger von ihren Nachbarn in ein Haus getrieben und dort verbrannt. Ihren Besitz eigneten sich die polnischen Bauern an; nach 1945 wurden solche Geschehnisse in den Orkus des Vergessens und Verschweigens verbannt.
„Ferner schöner Schein“ entwirft dafür ein Gleichnis in der Gegenwart. Nichts, so postuliert der zutiefst pessimistische Film, habe sich an der Gier und dem Egoismus der Menschen geändert: Die Gespenster der Vergangenheit leben in der Gegenwart fort, ungebrochen, unbesiegt; niemand ist sich irgendeiner Schuld bewusst; der Begriff Reue ist aus dem Sprachschatz getilgt.
Einmal, lange nachdem Pawels Mutter aus dem Dorf gebracht worden ist, steht sie plötzlich wieder im geöffneten Fenster ihres Hauses und stößt erbarmungswürdige Schreie aus. Je mehr sich die Kamera vom Haus entfernt, in einem langsamen Zoom, desto lauter sind diese Schreie zu hören. Eine Vision, ein Image-choc. Auch auf eine solch eindringliche wie mysteriöse Weise lässt sich der Schmerz über das Unrecht dieser Welt in ein einziges unvergessliches Bild bannen.
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