Fräulein Else (2012)

Drama | Indien/Deutschland/Österreich 2012 | 70 Minuten

Regie: Anna Martinetz

Eine junge Frau erfährt während des Urlaubs in einem indischen Luxushotel von der drohenden Insolvenz und Verhaftung ihres Vaters. Um die Gefahr abzuwenden, soll sie einen anderen Hotelgast bitten, ihrer Familie das Geld zu leihen. Doch der Mann verlangt einen unmöglichen Preis. Der Debütfilm verwandelt Arthur Schnitzlers gleichnamige Novelle (1924) in eine audiovisuelle Sinfonie subjektiver Welt- und Selbstsichten. Souverän verbindet die Inszenierung Gedanken und Gefühle der Hauptfigur, Träume und Visionen, Bewusstes und Unterbewusstes zu einer komplexen Persönlichkeitsstudie, die Ängste und Fluchtbewegungen der alten Gesellschaft in den Strudeln der Zeit reflektiert. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Indien/Deutschland/Österreich
Produktionsjahr
2012
Produktionsfirma
HFF München
Regie
Anna Martinetz
Buch
Anna Martinetz
Kamera
Jakob Wiessner
Musik
Markus Lehmann-Horn
Schnitt
Heike Parplies · Anna Martinetz
Darsteller
Korinna Krauss (Else) · Michael Kranz (Paul) · Martin Butzke (Dorsday) · Katalin Zsigmondy (Tante Emma) · Marion Krawitz (Cissy)
Länge
70 Minuten
Kinostart
22.05.2014
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama | Literaturverfilmung

Eine furiose Adaption der gleichnamigen Novelle von Arthur Schnitzler

Diskussion
Die Welt ist aus den Fugen, nur auf dem Zauberberg nimmt das alte Leben noch seinen Lauf. Thomas Manns Schweizer Lungensanatorium oder auch jenes italienisches Kurhotel, in dem die 1924 erschienene Novelle „Fräulein Else“ von Arthur Schnitzler angesiedelt ist, findet in Anna Martinetz’ gleichnamigem Spielfilm seine Entsprechung in einer Luxusherberge am Fuße des Himalaja. Hier verbringt Else, die Tochter eines Anwalts, ihre Ferien, gemeinsam mit der Tante und dem Cousin. Schwere Kolonialpracht für wohlhabende Europäer, die von unauffällig agierenden indischen Angestellten umsorgt werden. Doch spätestens als Else die Nachricht von der Insolvenz ihres Vaters und dessen drohender Verhaftung erfährt, verwandelt sich das Refugium in eine Falle. Die junge Frau, von der per Fax heftig insistierenden Mutter mit der dringenden Beschaffung von 300.000 Euro beauftragt, sieht sich zwischen der Loyalität zur Familie und dem eigenen emanzipatorischen Stolz gefangen. Was tun, wenn der ebenfalls in Indien anwesende Kunsthändler, dessen finanzielle Hilfe sie erbitten soll, von ihr verlangt, dafür ihren Körper nackt betrachten zu dürfen, und sei es auch nur eine Viertelstunde lang? „Fräulein Else“ ist ein vibrierend-irritierendes, hochartifizielles, in seinem Stilwillen und seiner erzählerischen Konsequenz grandioses Werk. Die junge österreichische Regisseurin lässt sich in ihrem Abschlussfilm an der HFF München nicht darauf ein, die schmale literarische Vorlage in eine veräußerlichte Fabel zu verwandeln; sie nutzt stattdessen die Monologstruktur des Textes, Schnitzlers Kunstsprache, für einen ganz eigenen filmischen Zugang: Ihre Bilder werden zu Projektionen von Gedanken und Gefühlen der Titelfigur, von Bewusstem und Unbewusstem, Unterbewusstem. Ein visueller Reigen subjektiver Welt- und Selbstsichten, unterlegt mit einer Tonspur, die natürliches Material nutzt und zugleich verfremdet, eine Sinfonie betörender und bedrückender Töne und Kompositionen. Das beginnt mit einem seltsamen Stöhnen unter Schwarzbild, das einen Beischlaf suggeriert, sich dann aber als Geräusch beim Tennisspiel herausstellt. Das Surren des Ventilators, der knurrende Tiger, die Töne der nahen Stadt lassen unbekannte Gefahren und Verlockungen erahnen. Zukunfts- und Versagensängste brechen sich Bahn. Wie Schocks scheinen Szenen aus dem fernen Europa auf: im Fernsehen die Nachrichten von sozialen Unruhen in London, Birmingham, Liverpool; und dann, wie eine Posse aus dem Abendland, jene Bilderfolge, die Angela Merkel als Zuschauerin einer rheinischen Karnevalstruppe zeigt. Eine Frau, zwanghafter Lustigkeit ausgesetzt, der die Unsicherheit über ihre Rolle ins Gesicht geschrieben steht; auch sie letzten Endes gefangen in einem Universum, das ihr fremd sein muss. Dass Anna Martinetz ihre Doktorarbeit zum Thema „Trauma und Film“ schreibt, ist „Fräulein Else“, dieser Symbiose aus Realität, Traum und Trauma, deutlich anzusehen. Mit welcher Souveränität die Montage hier gehandhabt wurde, nicht zuletzt, um den Film zu einer vielschichtigen Metapher über Verunsicherungen, Ängste und Fluchtbewegungen der alten Gesellschaft in den Strudeln der Zeit werden zu lassen, grenzt an ein kleines Wunder. So steht „Fräulein Else“ in einer Reihe mit so außergewöhnlichen deutschen Produktionen wie Ulrich Köhlers „Schlafkrankheit“ (fd 40 521) oder Jan Zabeils „Der Fluss war einst ein Mensch“ (fd 41 289), mit denen er sehr viel mehr gemein hat als nur das exotische Ambiente. Korinna Krauss in der Titelrolle geht schmächtig, gedankenverloren, mitunter somnambul durch den Film, stark und zerbrechlich zugleich, gefolgt von der einer äußerst bewegten Kamera, die durch ihr Schwanken auch physisch erfahrbar macht, wie sehr der Hauptfigur der Boden unter den Füßen entzogen wird. Die Spielorte spiegeln Seelenzustände: der indische Dschungel, das nahe Ruinengelände, die Abgründe des Gebirges, die pulsierende Stadt, durch die Else wie ein Tiger streift. Der Tiger kommt auch selbst ins Bild, während im Luxushotel Tigerfelle an den Wänden hängen: Die bürgerliche Gesellschaft glaubt, ihre wilden Tiere erlegt zu haben, und degradiert sie zur bloßen Jagdtrophäe, kaum ahnend, dass es so einfach nicht geht. Am Ende kommen von den Worten „träumen“ und „fliegen“ nur noch die ersten Silben aus Elses Mund: „Ich träu... Ich flie...“. Es scheint, als hätte der Zwang, sich fremd bestimmen zu lassen, wieder einen Geist, der sich nach Freiheit und Unabhängigkeit sehnt, zur Strecke gebracht.
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