Die Stille nach dem Schuss steht im Zentrum des zweiten Langfilms von Thomas Sieben. Bereits sein Debüt „Distanz“
(fd 40 020) widmete sich mit wissenschaftlich kühl anmutender Beobachtung der Psyche eines jungen Psychopathen, dessen chronische Teilnahmslosigkeit mit eruptiver Gewalt abwechselte, auf Autobahnbrücken, wo er Steine auf die Fahrbahn warf, oder in einem Park, in dem er wahllos Spaziergänger mit einem Jagdgewehr erschoss.
In „Staudamm“, der Rekonstruktion eines fiktiven Amoklaufs in einer Allgäuer Schule, ist der Täter nur scheinbar abwesend. Sein fataler, akribisch geplanter Wutausbruch, dem Mitschüler, Lehrer und am Ende auch er selbst zum Opfer fielen, liegt zwar ein ganzes Jahr zurück. Doch das Dorf, in dem er gewütet hat, ist immer noch traumatisiert; die Schule ist in provisorische Container umgezogen, die zugeschneiten Straßen sind menschenleer, bis auf ein paar versprengte Bewohner, die auf Fremde aggressiv reagieren und ihnen Voyeurismus unterstellen.
Roman, der Assistent eines Staatsanwalts aus München, ist einer von ihnen. Wenn er nicht lustlos juristische Akten auf Tondateien spricht, die sein lesefauler Chef im Auto anhört, balanciert er wortkarg am Rande einer Beziehungskrise oder sucht stumpf Erholung in Computerspielen. Auch der jüngste Fall eines Amoklaufs wäre an ihm spurlos vorbeigegangen, müsste er nicht stellvertretend vor Ort Polizeiberichte abholen. Eine fehlende Unterschrift zwingt ihn, länger als geplant in der Bergidylle zu verweilen. Er begegnet einer Augenzeugin, die mit dem Amokläufer, einem Außenseiter wie sie selbst, befreundet war. Gemeinsam schlagen die beiden mit Kiffen, Alkohol und Billard die Zeit tot, schleichen nachts durch das verlassene Schulgebäude und tagsüber am Staudamm entlang, wo der Täter von der Polizei erschossen wurde, und ins Haus von dessen Eltern, die aus Angst vor Selbstjustiz weggezogen sind. Die beiden kommen sich näher und sprechen über die Einzelheiten des mörderischen Geschehens, die im Off von Roman immer wieder akribisch vorgelesen werden, während man ihm beim Joggen durch die leere Landschaft zusieht oder die dampfenden Berggipfel um ihre erhabene Ruhe beneidet.
Die retrospektive Recherche hat durchaus ihren Reiz, wären da nicht die unbeholfenen Dialoge, die oft über „keine Ahnung“, „krass“ und „echt“ nicht hinausfinden, wahlweise aber auch als besonders authentische Jugendsprache durchgehen könnten. Ohnehin geht Sieben auch in seiner Inszenierung fast dokumentarisch vor, lässt sich ausgiebig Zeit und Raum für eine gedrückte Stimmung, die von einer auffällig an den minimalistischen Düster-Pop-Preziosen der Band The XX orientierten Musik getragen wird. Die Zuneigung, die zaghaft die beiden von der Tat ebenso abgestoßenen wie hypnotisch angezogenen Detektive erfasst, mündet nicht in pflichtschuldig absolvierten Sexszenen, sondern in dem vage angedeuteten Aufbruch in eine gemeinsame Zukunft.
Im Finale liest Roman aus dem Tagebuch des Amokläufers vor, das sich im Besitz seiner neuen Freundin befindet: die Aufzeichnungen eines klassisch pubertär am Weltschmerz leidenden Heranwachsenden, der sich in seiner Isolation einen Schritt zu weit in seine Rachefantasien hineingesteigert hat. Er hasst die „Kleinstadthölle“, in der er sich gefangen fühlt, er verachtet seine angepassten Mitschüler und empfindet das Leben als eine von den Massenmedien manipulierte Lüge; er selbst definiert sich über einen abweichenden Musikgeschmack und fühlt sich befugt, seine verblendete Umgebung von ihrem Unglück zu erlösen. Ein selbstherrliches Manifest, das immerhin etwas von den Gründen erahnen lässt, die hinter den auf den ersten Blick unmotivierten Amok-Fällen unauffälliger Provinzler stecken könnten.
Die Spannung, die der Film zwischen der eigentlich inkompatiblen Anbiederung bei Betroffenen durch angestrengt coole Darstellerposen und der spröden, jeder Aufregung ausweichenden Machart aufbaut, geht nicht immer ganz auf, verdient in Zeiten einer aus Quotengründen allmählich in alle Genrerichtungen wuchernden „Tatort“-Lawine allerdings Respekt. „Staudamm“ ist eine erstaunlich leise und unspektakuläre Annäherung an ein ratlos machendes Jugendphänomen, die sich innerhalb der jede simple Erklärung verweigernden Tradition von Gus Van Sants „Elephant“
(fd 36 420) bewegt.