Nach dem Tod eines Theaterautors versammeln sich 13 Schauspieler in dessen Haus, um sich die "Eurydike"-Aufzeichnung einer jungen Truppe anzusehen. Während des Screenings verstricken sich die Trauergäste, die zu verschiedenen Zeiten alle einmal selbst in einer der vielen „Eurydike“-Inszenierungen des Toten mitgewirkt haben, zunehmend in dem Stoff, wobei sich Darsteller- und Rollenidentität ebenso vermischen wie Fiktion und Wirklichkeit, Leben und Tod. Ein brillant gespielter Film über Nachbarschaften und Differenzen von Film und Theater, der aufs Schönste mit der Sprache jongliert, aber auch durch das räumliche Spiel eine faszinierende Verwirrung entstehen lässt.
- Sehenswert ab 16.
Ihr werdet euch noch wundern
- | Frankreich/Deutschland 2012 | 115 (24 B./sec.)/110 (25 B./sec.) Minuten
Regie: Alain Resnais
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Filmdaten
- Originaltitel
- VOUS N'AVEZ ENCORE RIEN VU
- Produktionsland
- Frankreich/Deutschland
- Produktionsjahr
- 2012
- Produktionsfirma
- F Comme Film/StudioCanal/France 2 Cinéma/Alamode Film/Christmas in July
- Regie
- Alain Resnais
- Buch
- Alex Reval · Laurent Herbiet
- Kamera
- Eric Gautier
- Musik
- Mark Snow
- Schnitt
- Hervé de Luze · Sylvie Lager
- Darsteller
- Sabine Azéma (Sabine Azéma / Eurydike 1) · Anne Consigny (Anne Consigny / Eurydike 2) · Pierre Arditi (Pierre Arditi / Orpheus 1) · Lambert Wilson (Lambert Wilson / Orpheus 2) · Michel Vuillermoz (Michel Vuillermoz / Vincent)
- Länge
- 115 (24 B.
sec.)
110 (25 B.
sec.) Minuten - Kinostart
- 06.06.2013
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Schon der Vorspann zeugt von der Durchdringung heterogener Formen, einer Mischung aus Soap und Historienstück: antike Darstellungen von Orpheus und Eurydike vor rosa-blauem Wolkenhimmelkitsch. Mit einer Vorführung in Wiederholung und Vermischung von Schauspieler- und Figurenidentität geht es seltsam weiter. 13 Schauspieler, die mit ihrem richtigen Namen vorgestellt werden – darunter Sabine Azéma und Pierre Arditi, Darsteller, die seit Jahrzehnten für das Kino von Alain Resnais stehen – erhalten einen Anruf mit der Todesnachricht des gefeierten Theaterautors Antoine d’Anthac und eine Einladung, sich in dessen feudalem Landhaus einzufinden. Man sieht sie jeweils im Halbprofil, den Telefonhörer am Ohr, abwechselnd am linken und rechten Bildrand.
Wenn die Schauspieler im Anschluss nacheinander den Salon von Antoine betreten, die Zugluft der geöffneten Tür dabei immer wieder ein paar Herbstblätter ins Innere weht und im Hintergrund die Sicht auf eine gemalte Landschaft eröffnet wird, haben sich Film und Theater schon längst gegenseitig durchdrungen. Die Tür stellt ein wiederkehrendes Motiv dar: ein Portal in eine andere, auch ästhetische Wirklichkeit. Die meisten Übergänge von einer in die andere Kunst -und Darstellungsform sind jedoch fließend und unsichtbar, das erst erzeugt den wahren Schwindel in Resnais’ Film.
Die versammelten Freunde haben alle zu verschiedenen Zeiten in Antoines Stück „Eurydike“ mitgewirkt (das Drehbuch basiert im Übrigen auf Jean Anouilhs Eurydike-Modernisierung von 1941) und sollen nun die auf Video aufgezeichnete Inszenierung einer jungen Theatertruppe begutachten. Während also der Film ständig Formen des Bühnenhaften, Künstlichen einbaut, dringt mit der Videoaufzeichnung etwas (Medien)fremdes ein.
Das Theaterstück, das der Regisseur Bruno Podalydès ohne Einmischungen von Resnais inszeniert hat, folgt einer gänzlich anderen Ästhetik. Das Setting ist weitaus weniger gesetzt und artifiziell – ein Fabrikgebäude, alte Ölfässer stehen herum, die Schauspieler tragen moderne Alltagskleidung – die Kamera ist bewegt und konterkariert die visuelle Präzision des Resnais’schen Films. Dabei wird die eine Form durch die andere eingerahmt: die Videoleinwand nämlich ist in die marmorne Wand eingelassen, der wiederum ein bewegliches Landschaftsbild als Vorhang dient.
Allmählich nimmt das Eurydike-Stück Besitz von den Schauspielern – und dem Film. Haben sie den Text anfangs noch verhalten mitgesprochen – als erinnerten Text, noch leicht zeitverzögert – gehen sie nun ganz in ihrer Rollenidentität auf. Die Sprache wird zu neuem Leben erweckt und löst sich von der Reproduktion; aus dem Zitat wird ein gelebter (oder einfach nur brillant gespielter) Affekt. Der Text scheint dabei permanent zu zirkulieren: zwischen Leinwand und Publikum, aber durch die Mehrfachbesetzung einiger Rollen auch unter Antoines Mitstreitern. Orpheus und Eurydike gibt es etwa in drei verschiedenen Altersklassen, manche Rollen dagegen nur einmal.
Auf diese Weise steht Mathieu Amalric, der den Kellner spielt, plötzlich in einer doppelten Inszenierung, einmal mit Lambert Wilson, ein anderes Mal mit Pierre Arditi. Schöne Verwirrung entsteht auch durch das räumliche Spiel. So ist das Haus von Antoine mit den Schauplätzen des Stücks aufs Merkwürdigste verbunden und die Schauspieler finden sich von einem Moment auf den anderen plötzlich auf einem Bahnsteig, in einer Wartehalle oder in einem Hotelzimmer wieder.
Eine Übung in Dekonstruktion ist „Ihr werdet euch noch wundern“ dennoch nicht, auch wenn Resnais sicherlich keinen Stein auf dem anderen lässt. Wenn etwa Eurydike fürchtet, dass Orpheus sie ansieht und damit dem Tod weiht, schraubt sich das Spiel der Schauspieler zu höchster Intensität hoch. Nur Verlass ist darauf nicht. Was hinter der Tür – oder nach dem nächsten Schnitt, dem nächsten Atemzug – wartet, ist ungewiss: „Vous n’avez encore rien vu“.
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