Der Auftakt von Ulrich Seidls "Paradies"-Trilogie (weitere Teile: "Glaube" und "Hoffnung") verdichtet deren Thema, die Sehnsucht nach Liebe und den Zusammenprall der Sehnsucht mit der Realität, zur bildmächtigen Erzählung. Vor dem Hintergrund eines Urlaubsressorts in Kenia muss eine 50-jährige Österreicherin begreifen, dass die erotischen Abenteuer mit jungen einheimischen Männern keineswegs auf innerer Zuneigung beruhen, sondern Sex ein Geschäft ist, das ganze Familien ernährt. Seidl bevorzugt tableauhafte, oft totale Einstellungen, in denen seine Sicht auf die Welt zu Metaphern verdichtet wird. Der Film überzeugt durch die kluge, durchaus streitbare Verbindung zwischen bitterem, fast zynischem Sarkasmus, Komik und abgrundtiefer Traurigkeit. (Teils O.m.d.U.)
- Sehenswert ab 16.
Paradies: Liebe
- | Österreich/Deutschland/Frankreich 2012 | 121 (24 B./sec.)/116 (25 B./sec.) Minuten
Regie: Ulrich Seidl
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Filmdaten
- Originaltitel
- PARADIES: LIEBE
- Produktionsland
- Österreich/Deutschland/Frankreich
- Produktionsjahr
- 2012
- Produktionsfirma
- Ulrich Seidl Film/Tatfilm/Parisienne de Production
- Regie
- Ulrich Seidl
- Buch
- Ulrich Seidl · Veronika Franz
- Kamera
- Ed Lachman · Wolfgang Thaler
- Schnitt
- Christof Schertenleib
- Darsteller
- Margarethe Tiesel (Theresa) · Peter Kazungu (Munga) · Inge Maux (Inge) · Dunja Sowinetz (Touristin 1) · Helen Brugat (Touristin 2)
- Länge
- 121
(24 B.
sec.)
116 (25 B.
sec.) Minuten - Kinostart
- 03.01.2013
- Fsk
- ab 16; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Heimkino
Die Standardausgabe (DVD & BD) enthält keine erwähnenswerten Extras. Die Box enthält die drei DVDs der Trilogie in einer Umverpackung, wobei die Veröffentlichungen aus Österreich (Hoanzl) hochwertiger verpackt sind. Die Boxen enthalten zudem ein Booklet zur Trilogie sowie eine Bonus-DVD. Die darin enthaltenen Extras beinhalten u.a. ein Interview mit dem Regisseur (21 Min.) sowie in den Filmen nicht enthaltene Szenen (21 Min.).
Diskussion
Mit seiner „Paradies“-Trilogie gelang Ulrich Seidl ein in der Filmgeschichte ziemlich einmaliger Hattrick: „Paradies: Liebe“ wurde in den Wettbewerb von Cannes eingeladen, „Paradies: Glaube“ folgte in Venedig und „Paradies: Hoffnung“ gilt als einer der Favoriten der „Berlinale“ 2013. Erst wenn alle drei Arbeiten zu sehen sind, werden die Gründe und Abgründe des Seidl-Universums in ihrer ganzen Tragweite, Kraft und Leidenschaft zu ermessen sein. Doch schon der erste Teil gibt mehr als nur einen Vorgeschmack: Bereits hier ist das Thema der Trilogie, die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit und der Zusammenprall mit der Realität, auf die diese Sehnsucht trifft, zu einer bildmächtigen Erzählung verdichtet.
Teresa, die 50-jährige Hauptfigur, reist in die Ferien nach Kenia. Die Anfangsszenen deuten an, dass sie in Österreich einen verantwortungsvollen, durchaus harten Job zurücklässt: Sie betreut behinderte Jugendliche. Auch daheim, in ihrer Wohnung, ist kaum eine Erholung von den Anstrengungen des Tages möglich: Alle Versuche, die pubertierende Tochter zu erziehen, treffen auf stoische Verweigerung. In Afrika nun lässt sich Teresa von einer gleichaltrigen Bekannten zu Sex-Abenteuern mit jungen Einheimischen animieren. Seidl legt in kurzen, wortlosen, tableauhaft totalen Bildern seine Sicht auf die Dinge dar: Die Welten sind geteilt; für die weißen Europäer werden die ordentlich aufgereihten Sonnenplätze vorbereitet, während Afrikaner den Pool reinigen oder den Touristen einen folkloristischen Singsang bieten. Die Ausbeutungsverhältnisse sind scheinbar klar geregelt; zwischen den Weißen und den am Strand lauernden schwarzen Beach-Boys patrouillieren Milizionäre, die penibel darauf achten, dass die nicht im Hotel beschäftigten Einheimischen keinen Schritt aufs abgezirkelte Gelände tun.
In diesem Ambiente gedeiht die Arroganz der Europäer prächtig, und es sind ebenso realistische wie sarkastische Szenen, in denen Seidl darüber reflektiert: Allein die Sequenz an der Hotelbar, in der die Frauen dem ortsansässigen Barkeeper Worte wie „Speckschwarte“ oder gar „Blunzengröstl“ beizubringen versuchen, sagt alles über die Nichtachtung aus, mit der die sich überlegen dünkenden Weißen den Afrikanern begegnen. Für ein Liebesabenteuer aber sind die jungen Männer dann allemal gut; die weiblichen Vampire saugen gewissermaßen das Blut aus den Adern der Ortsansässigen. Deren Rache folgt, wenn man so will, auf dem Fuße: Teresa, die in ihrer erotischen Bedürftigkeit und Naivität tatsächlich für einen Moment an die große, wahre Liebe glaubt, sieht sich bald auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, als sie begreift, dass auch der Sex seinen Preis hat, die Erotik ein Geschäft ist, das ganze Familien ernährt. Die Ausbeutung wird umgestülpt, sei es nur für einen flüchtigen Moment.
Noch ehe Teresa ihre sexuellen Abenteuer antritt, blendet Seidl eine Szene ein, die gleichnishaft, auch in ihren tragikomischen Untertönen, alles Kommende vorwegnimmt: Teresa füttert auf dem Balkon ihres Hotelzimmers ein Äffchen mit Bananenstücken – aber jedes Mal, wenn sie das putzige Tierchen fotografieren, also für die Ewigkeit festhalten will, ist es schon wieder entschwunden. Genauso wird es später mit den jungen Männern sein; die Suggestion des Paradieses entpuppt sich als Albtraum, und die Liebessehnsucht mündet schließlich in jener bitteren Farce, in der Teresa von den Freundinnen einen Schwarzen zum Geburtstag geschenkt bekommt, der einen Nackttanz aufführt, mit einem Schleifchen um den Penis: „Der gehört jetzt dir, und zwar ganz, von seinem Kopferl bis zum Schwanz.“ In solchen Momenten manifestiert sich die typisch seidlsche Liaison zwischen bitterem, fast zynischem Sarkasmus, Komik und tiefer Traurigkeit: Die Kamera, die die Totalen bevorzugt, blendet nicht schamhaft oder verklärend ab, sondern lässt die Zuschauer bis zur letzten Konsequenz am Geschehen teilhaben.
Den Darstellern, allen voran der großartigen Margarethe Tiesel als Teresa und ihren afrikanischen Partnern, die Seidl in ausführlichen Castings direkt vor Ort rekrutierte, wurde eine ungehemmte Zurschaustellung des eigenen Körpers abverlangt. Besonders für die Frauen, die nicht dem von Hochglanzillustrierten beschworenen Schönheitsideal entsprechen, bedeutete dies, sich dem Regisseur anzuvertrauen und dessen moralisch-ethisches Credo gleichsam zum eigenen zu machen. Vom argen Weg der Erkenntnis, den Teresa während ihrer afrikanischen Erlebnisse gehen muss und der sie am Ende nicht unbedingt klüger, wohl aber hochgradig deprimiert zurücklässt, bleiben die tieftraurigen Augen der Margarethe Tiesel wohl am meisten in der Erinnerung haften.
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