Der Geschmack von Rost und Knochen

Drama | Frankreich/Belgien 2012 | 127 (24 B./sec.)/122 (25 B./sec.) Minuten

Regie: Jacques Audiard

Ein junger Mann reist mit seinem fünfjährigen Sohn von Nordfrankreich an die Côte d'Azur, zieht dort zur Familie seiner Schwester und nimmt einen Job als Türsteher an. Er lernt eine junge Wal-Trainerin kennen, die bei einem durch einen Orka verursachten Unfall beide Unterschenkel verliert. Obwohl der Mann weder Mitleid noch Mitgefühl empfindet, hilft er der jungen Frau ins Leben zurück. Das kraftvolle, mitunter wuchtig entwickelte (Melo-)Drama führt seine Handlungsstränge zu einem emotional aufwühlenden Ende zusammen und besticht durch außergewöhnliche Schauspielerleistungen in den beiden Hauptrollen. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
DE ROUILLE ET D'OS
Produktionsland
Frankreich/Belgien
Produktionsjahr
2012
Produktionsfirma
Why Not Prod./Page 114/France 2 Cinéma/Les Films du Fleuve/RTBF/Lumière/Lunamine
Regie
Jacques Audiard
Buch
Jacques Audiard · Thomas Bidegain
Kamera
Stéphane Fontaine
Musik
Alexandre Desplat
Schnitt
Juliette Welfling
Darsteller
Marion Cotillard (Stéphanie) · Matthias Schoenaerts (Ali) · Armand Verdure (Sam) · Céline Sallette (Louise) · Corinne Masiero (Anna)
Länge
127 (24 B.
sec.)
122 (25 B.
sec.) Minuten
Kinostart
10.01.2013
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Die Extras enthalten u.a. ein Feature mit im Film nicht verwendeten Szenen (6 Min.).

Verleih DVD
Universum/Wild Bunch (16:9, 2.35:1, DD5.1 frz./dt.)
Verleih Blu-ray
Universum/Wild Bunch (16:9, 2.35:1, dts-HDMA frz./dt.)
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Diskussion
Es beginnt mit einer Reise. Ali, Ende 20, ist mit seinem fünfjährigen Sohn Sam, den er kaum kennt, mal per Anhalter, mal im Zug unterwegs von Nordfrankreich zur Côte d’Azur. Eine erste Irritation: Vater und Sohn durchsuchen die Waggons und schlingen hastig hinunter, was andere an Essbarem zurück gelassen haben. In Antibes schlüpft Ali bei der Familie seiner Schwester Anna unter, in einer Diskothek findet er Arbeit als Türsteher. Nach einer Prügelei im Club ist er Stéphanie behilflich, einer schönen, verführerischen, aber auch undurchsichtigen Frau, die einen überraschenden Beruf hat: Im Marineland d’Antibes dirigiert sie riesige Orkas und lässt sie mit einem einzigen Wink aus dem Wasser springen: Wal-Dressur als durchchoreografiertes Spektakel mit lauter Musik und begeistertem Publikum. Dem gegenüber steht ein anderes Show-Konzept: die regellosen, unbarmherzigen Kickbox-Kämpfe, mit denen sich Ali, durch einen Arbeitskollegen ermuntert, in schäbigen Hinterhöfen zusätzliches Geld verdient. Dann die Tragödie: Ein Orka verursacht einen schweren Unfall im Marineland, und als Stéphanie im Hospital erwacht, sind ihre beide Unterschenkel amputiert worden. Nach Wochen der Depression ruft sie Ali an, den Fremden, der kein Mitleid heuchelt und in seinem kühlen Pragmatismus auch nichts erwartet. Er besucht Stéphanie, führt sie im Rollstuhl aus und begleitet sie zum Strand. In einem der schönsten Momente des Films wagt sich die junge Frau endlich ins Meer und empfindet, nur vom Wasser getragen, wieder Lebensfreude. Dann bietet Ali ihr beiläufig Sex an – nur um zu wissen, ob es noch gehe, und zwar immer dann, wenn sie „OP“ seien, operationsfähig, also verfügbar. Im Gegenzug begleitet ihn Stéphanie zu seinen Wettkämpfen. Aus dem Auto sieht sie den kämpfenden Männern zu; die Kamera unterstreicht durch Zeitlupenaufnahme ihr Interesse. Später wird sie selbstbewusst in Dreiviertelhosen ihre mechanischen Prothesen herzeigen und sich wie „Robocop“ – so nennt Ali sie einmal – unter den rohen Männern bewegen. Während Ali über die Liebe nur wenig nachdenkt, realisiert Stéphanie immer mehr, wie sehr sie ihn braucht. Jacques Audiard („Ein Prophet“, fd 39 77) präsentiert in seinem neuen Film (nach einer Kurzgeschichte aus der Sammlung „Rust and Bone“ des Kanadiers Craig Davidson) fast nur versehrte Figuren, sei es körperlich, seelisch oder ökonomisch. Die Behinderung Stéphanies wird durch Alis Gefühlskälte gespiegelt, auch seinem Sohn gegenüber, den er mehrmals misshandelt, einmal sogar verletzt. In einer Nebenhandlung verliert Anna ihren Job, weil Ali auf ihrer Arbeitsstelle illegale Überwachungskameras angebracht hat und sie so einer geringfügigen Verfehlung überführt wurde. Auch Sam muss am Schluss um sein Leben ringen, und nur Ali kann ihn retten, indem er seine sonst so zerstörerischen Fäuste endlich zu etwas Gutem nutzt. „Wenn Männer fallen“ (fd 33 621) hieß Audiards Regiedebüt, ein programmatischer Titel für sein gesamtes Werk. Der französische Regisseur interessiert sich für Männer in der Krise, für Antihelden mit Fehlern, die sich ihren Weg im wahren Sinne des Wortes freischlagen müssen. Dabei ziehen sie sich Blessuren zu, die sie wie ein Mahnmal mit sich herumtragen. Man mag das „Zuviel“ an dramatischer Wucht, die melodramatischen Verwicklungen von „Der Geschmack von Rost und Knochen“ als Kolportage empfinden; dennoch ist es bewundernswert, wie Audiard die unterschiedlichen Handlungsstränge, von der Sozialstudie (die nichts erklärt, sondern nüchtern konstatiert) über den Boxerfilm mit eingeschobener Vater-Sohn-Problematik bis zum Liebesdrama zu einem emotional aufwühlenden, folgerichtigen Ende zusammenführt. Dabei vermeidet die Inszenierung Pathos und Sentimentalität. Audiards Kino ist direkt, unmittelbar, mitreißend und kraftvoll. Stilistisch vermittelt sich dies in einem perfekt montierten Wechsel aus nervöser Handkamera, die den Figuren ganz nahe rückt und ihre Frustration und Wut unmittelbar auf die Leinwand überträgt, und gelegentlichen Halbtotalen, die ein wenig Orientierung bieten und das Erzähltempo drosseln. Interessant auch die Lichtsetzung: Das harte, grelle Licht der Côte d’Azur (die wohl selten so unglamourös eingefangen wurde) steht im starken Kontrast zu den abgedunkelten Innenräumen, in denen sich Stéphanie lange Zeit verkriecht. Matthias Schoenaerts, der schon in „Bullhead“ (fd 40 772) wie ein unter Druck stehender Kessel agierte, überzeugt mit einer unkontrollierten Energie, die sich zerstörerisch Bahn bricht und die Zerbrechlichkeit und herbe Schönheit Marion Cotillards kontrastiert. Audiard findet aber auch immer Bilder, die man so noch nicht gesehen hat, die überraschen und bewegen. Wie Stéphanie auf Prothesen, mit dem Rücken zur Kamera, vor den Glaswänden des riesigen Aquariums im Marineland steht und den Wal, der ihr doch so viel Leid angetan hat, stumm dirigiert, das wird man so schnell nicht vergessen.
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