Eine reizvoll vertrackte Revision von Film- und portugiesischer Kolonialgeschichte: Nach einer Einleitung in zwei Kapitel unterteilt, erzählt der Film zunächst eine im gegenwärtigen Portugal angesiedelte Geschichte um eine gläubige Seniorin, die sich um ihre exzentrische Nachbarin kümmert, bevor er im zweiten Teil in die Vergangenheit dieser Nachbarin (oder die Imagination davon) eintaucht, die in jungen Jahren eine melodramatische Liebesgeschichte in einer imaginären afrikanischen Kolonie erlebt. Die beiden sich spiegelnden Teile kreisen spielerisch-melancholisch um die Vergegenwärtigung von Verlorenem, um unerfüllte Glückssehnsüchte und kolonialistische Projektionen, wobei geschickt mit wiederkehrenden Bildmotiven sowie Anleihen bei der Filmgeschichte gearbeitet wird. Ein fesselnder Film an der Grenze von klassischer Narration und Experimentalfilm.
- Sehenswert ab 16.
Tabu - Eine Geschichte von Liebe und Schuld
- | Portugal/Deutschland/Brasilien/Frankreich 2012 | 118 (24 B./sec.)/113 (25 B./sec.) Minuten
Regie: Miguel Gomes
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Filmdaten
- Originaltitel
- TABU
- Produktionsland
- Portugal/Deutschland/Brasilien/Frankreich
- Produktionsjahr
- 2012
- Produktionsfirma
- O Som e a Fúria/Komplizen Film/Gullane Entretenimento/Shellac Sud
- Regie
- Miguel Gomes
- Buch
- Miguel Gomes · Mariana Ricardo
- Kamera
- Rui Poças
- Schnitt
- Telmo Churro · Miguel Gomes
- Darsteller
- Teresa Madruga (Pilar) · Laura Soveral (alte Aurora) · Ana Moreira (junge Aurora) · Henrique Espirito Santo (alter Ventura) · Carloto Cotta (junger Ventura)
- Länge
- 118 (24 B.
sec.)
113 (25 B.
sec.) Minuten - Kinostart
- 20.12.2012
- Fsk
- ab 0; f (O.m.U.) ab 6; f (dt. Fsg.)
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Diskussion
Der Prolog ist ein „Film im Film“, zusammengesetzt aus Fragmenten des Vergangenen – aus Mythen, magischen Erzählungen und Anspielungen auf Joseph Conrad wie auch auf das Abenteuerfilmgenre des klassischen Hollywood-Kinos. Ein durch das „Herz des dunklen Kontinents“ streifender Entdecker wird darin von einem Krokodil aufgefressen, wobei seine Traurigkeit und Melancholie in das Tier wandern. Das Krokodil taucht im Lauf des Films immer wieder auf: in Gestalt eines Fahrsimulators für Kleinkinder in einem Einkaufszentrum in Lissabon, als Wolkenbild und als süßes Babykrokodil namens Dandy, Mitauslöser eines leidenschaftlichen Liebesdramas. „Tabu“ ist bevölkert von Wiedergängern, von Objekten und Motiven, die sich in modifizierter Form wiederholen oder in reinkarnierter Form wieder auftauchen – nicht als originäre Präsenz, sondern als Abbild von etwas längst Verlorenem, als Phantom. „Aurora hatte eine Farm in Afrika, am Fuße des Monte Tabu“, heißt es etwa in der Mitte des Films, ein Widergängermotiv aus der Geschichte des westlichen Kinos und seiner Afrika-Bilder (etwa „Jenseits von Afrika“, fd 25 508) wie auch aus der portugiesischen Kolonialvergangenheit. Geschichte und Erinnerung sind in „Tabu“ mit den Bildern des Kinos aufs Engste verwoben.
Den berückend schönen schwarz-weißen Film über den Entdecker und das Krokodil sieht eine Frau im Kino: Sie heißt Pilar, ist Rentnerin und eine der drei schrulligen Frauenfiguren, von denen der erste Teil des Films handelt. Pilar ist streng katholisch und außerdem sozial engagiert; aufopfernd kümmert sie sich um ihre Nachbarin Aurora, eine einsame und überkandidelte alte Dame, die ihr letztes Geld im Spielcasino verpulvert. In den letzten Tagen des Jahres drängen sich Reste von Auroras Vergangenheit – und Reste der alten kolonialen Ordnung – immer hartnäckiger in die (postkoloniale) Gegenwart; die ehemalige Siedlerin fantasiert von einem Krokodil und verdächtigt ihre kapverdische Haushälterin Santa der Hexerei. „Das verlorene Paradies“, hat der portugiesische Regisseur Miguel Gomes diesen ersten Teil seines klug-verspielten Films betitelt – eine ironische Anspielung auf das verlorene Kolonialreich, das erst mit der Nelkenrevolution Mitte der 1970er-Jahre sein Ende fand. Der Untertitel ist zudem die Umkehrung einer filmhistorischen Vorlage: „Tabu“ heißt auch der letzte Film von Friedrich Wilhelm Murnau aus dem Jahr 1931, ebenso zwei geteilt wie sein Nachfolger, nur geht hier das „Paradies“ dem „verlorenen Paradies“ voraus.
Die umgekehrte zeitliche Ordnung ist bei Gomes jedoch nur der vordergründige Witz: Tatsächlich verhalten sich die beiden Segmente weniger linear zueinander als dass sie sich gegenseitig reflektieren. Auch wenn der erste Teil scheinbar realitätsnäher verfasst ist, mutet seine Stimmung weitaus entrückter an. Das Schwarz-Weiß des Anfangs wird fortgesetzt, nur sind die Bilder jetzt glatt, flach und ohne jede Haptik. Eine leichte Hangover-Stimmung liegt über allem; die Figuren wirken starr, ihre verstockten Dialoge verheddern sich mehrfach in rätselhaften Wiederholungsschleifen. Der Übergang zum „Paradies“ vollzieht sich schließlich in einer Shopping Mall mit künstlich angelegtem Dschungel; mit einem langsamen Kameraschwenk öffnet sich der Blick auf ein Dickicht aus Palmen und anderen exotischen Gewächsen – eine Sequenz, die sich wie ein Gewinde in den zweiten Teil des Films schraubt.
Venura, einst Auroras feuriger Liebhaber, inzwischen Bewohner eines Altersheims, ist der Erzähler dieses nun folgenden Films, der die Vergangenheit Auroras in einer fiktiven ehemaligen Kolonie Portugals rekapituliert. Gomes inszeniert ihn nicht als klassische Rückblende, sondern als eine Art filmische Erinnerung – es könnten Pilars innere Bilder sein, die sie als ästhetische Fortsetzung des Films imaginiert, den sie zu Beginn im Kino gesehen hat. „Paradies“ wurde im Gegensatz zum 35-mm-Material des ersten Teils auf 16-mm gedreht und ist bis auf die Erzählerstimme, dezente Geräusche und einige wenige, dafür umso präzisere Musikeinsätze ein stummer Film. Doch trotz seiner Anleihen beim Stummfilm versucht Gomes kein mimetisches (und hermetisches) Abbild dieser vergangenen Ära herzustellen. Das Bild ist prachtvoll, aber leicht milchig, mit vielen Grauwerten. Auch kompensieren Inszenierung und Montage nicht die Abwesenheit des gesprochenen Worts; mitunter gibt es längere stumme Dialogpassagen im Stil von einfachen Home Movies. Das Kino ist trotz dieser brüchigen Ästhetik als Referenzraum allgegenwärtig, etwa in Venturas Moustache-Look, einer Mischung aus Errol Flynn und Clark Gable. An anderer Stelle wird berichtet, dass Aurora als Jagdberaterin an dem Film „Nie wieder Schnee am Kilimandscharo“ mitgearbeitet habe.
Auch wenn sich Gomes wenig um historische Rekonstruktionen schert, ist seine Haltung nicht post-aufklärerisch; eher verfehlt er gezielt ein konventionelles Verständnis von Aufklärung im Sinne eines ideologisch abgedichteten Diskurses, wenn er die Liebesgeschichte von Aurora und Ventura so großformatig an den politischen Verhältnissen vorbei erzählt, sie dann aber auf umso abstrusere Art miteinander verknüpft. Denn als die verbotene Beziehung der beiden ein Todesopfer fordert, deklariert die anti-koloniale Befreiungsbewegung den Toten, einen Angehörigen der Kolonialmiliz, sogleich für ihre Ziele, was den Ausbruch des Unabhängigkeitskriegs mitbefördert. Gomes’ ungebändigte Fabulierkunst ist nicht zuletzt ein Vehikel zur Aufmischung und Vergegenwärtigung des Vergangenen: Ebenso wie das Krokodil vervielfältigt sich auch die (kolonialpolitische und filmische) Geschichte in schillernde Variationen und nistet sich in die Gegenwart ein.
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