Es beginnt mit einer Szene, die sich lange nicht einordnen lässt: Ein Ausblick auf eine orientalische Stadtlandschaft, ein karger Raum, in dem einer Gruppe von Kindern die Köpfe geschoren wird. Unter ihnen ist ein kleiner Junge, dessen dunkle Haare unter dem Rasierapparat zu Boden fallen. Er schaut wütend-trotzig von unten durch die Kamera direkt zum Kinozuschauer; dazu erklingt aus dem Off wie ein Requiem der Song „You and Whose Army“ von Radiohead. Was es mit dem Kind auf sich hat, ahnt man erst gegen Ende des Films. Zunächst hinterlässt die Exposition nur den Eindruck von Unheil, der die folgenden, an sich harmlosen Szenen überschattet. Die Erzählung springt nach Quebec, um dort die Zwillinge Jeanne und Simon vorzustellen. Diese treffen sich bei einem Notar, dem früheren Arbeitgeber ihrer verstorbenen Mutter, um der Testamentsöffnung beizuwohnen. Die Mutter, Nawal, die ihre letzten Jahre in völligem Schweigen verbrachte, hinterlässt ihren erwachsenen Kindern zwei Briefe, einen für ihren Vater, den sie bisher für tot hielten, und einen zweiten für einen Bruder, von dem Jeanne und Simon nichts wussten. Sie sollen die unbekannten Familienmitglieder suchen und ihnen die Briefe aushändigen. Dieses Erbe führt die Zwillinge auf die Spur der Vergangenheit ihrer Mutter, die einst aus dem Nahen Osten (das Land wird nicht genauer spezifiziert, aber man darf vermuten, dass es sich um den Libanon handelt) emigrierte und in Kanada ein neues Leben aufbaute. Während der Bruder sich der Spurensuche zunächst verweigert – offensichtlich war das Verhältnis zur Mutter nicht das beste –, reist Jeanne in Nawals Heimat und beginnt eine detektivische Recherche, die Schreckliches zu Tage fördert. Nawals Vergangenheit, die in Rückblenden entfaltet wird, ist von den Auswirkungen des Bürgerkriegs gezeichnet, von gewaltsamen Trennungen, Morden und Folter. Der deutsche Filmtitel bezieht sich auf eines der schrecklichen Geheimnisse, das Jeanne aufdeckt: Ihre Mutter wurde auf der Suche nach ihrem verschollenen Erstgeborenen in die Gräuel des Bürgerkriegs verstrickt, saß wegen eines politisch motivierten Attentats 15 Jahre im Gefängnis, wurde gequält und vergewaltigt, leistete aber Widerstand, indem sie unermüdlich sang.
Für Jeanne und ihren Bruder, der doch noch zu ihr stößt, auch wenn er ihren Recherchen weiterhin kritisch gegenüber steht, stellt sich die Frage, ob es Sinn macht, die Wunden der Vergangenheit freizulegen, oder ob es nicht besser wäre, sich auf die Zukunft zu konzentrieren. Wird die Mission, auf die Nawal ihre Kinder posthum schickte, etwas Positives bewirken? Oder ist sie nicht eher eine fatale Bürde, der Keim neuen Leids? Nawals Geschichte lässt den Schluss zu, dass das Vergessen des Vergangenen durchaus wünschenswert sein könnte: Es ist die fatale Kette der Vergeltung, die im Rahmen des Bürgerkriegs immer wieder neue Gewalttaten als Rache für erlittene, unvergessene und unvergebene Taten nach sich zieht. Andererseits wird aber auch ausgesprochen, dass es ohne Aufklärung der blinden Flecken in der eigenen Geschichte keinen Frieden geben kann.
Denis Villeneuve hat eine filmisch eigenständige Form gefunden, um das Theaterstück von Wajdi Mouawad auf die Leinwand zu übertragen. Er delegiert vieles, was Mouawad primär dialogisch erkundet, an die Bilder, spiegelt es mehr auf den Gesichtern als in den Worten der Protagonistinnen. Die Dramaturgie folgt den Reisebewegungen, die Jeanne und Nawal bei ihren Suchen vollziehen: Beide Ebenen werden, parallel montiert, weitgehend chronologisch aufgerollt. Vergleicht man den Film mit Julian Schnabels „Miral“
(fd 40 148), der ebenfalls die Leidensgeschichte des Nahen Ostens im Rahmen einer tragischen Familiengeschichte erzählte, fallen die Meriten von Villeneuves Inszenierung ins Auge: Wo Schnabel in der Fülle der Figuren keinen roten Faden fand, gelingt Villeneuve in der Konzentration auf Jeanne und Nawal ein emotional packendes Drama; wo Schabel trotz des Einbaus dokumentarischer Szenen und einem „Nach einer wahren Geschichte“-Gestus nur eine naive Melodramatisierung der Geschichte gelang, erreicht Villeneuve durch eine entgegengesetzte Strategie, durch die dramatische Überhöhung, die von der realen Geschichte weg zur antiken Tragödie à la „Ödipus“ führt, eine spannungsvolle Annäherung. Die „Tragödienhaftigkeit“ mit Mut zum Pathos bricht immer wieder den Realismus der filmischen Inszenierung auf, was durchaus irritierend ist, aber auch sinnstiftend: Die individuellen Verheerungen, die Krieg und Gewalt hinterlassen, finden einen Ausdruck, der die historische Situation nicht ausblendet, aber gleichzeitig transzendiert. Statt Täter wie Opfer auf verschiedene Seiten zu stellen, entwirft „Die Frau, die singt“ das Bild einer „Menschheitsfamilie“, die an ihrer Bestimmung des friedlichen Zusammenlebens auf tragische Weise scheitert. Dies verleiht dem Film seine emotionale Wucht, aber auch seine humanistische Qualität.