Die ewigen Momente der Maria Larsson

- | Schweden/Dänemark/Norwegen/Finnland/Deutschland 2008 | 110 Minuten

Regie: Jan Troell

Anfang des 20. Jahrhunderts ist eine Arbeiterfrau in einer schwedischen Kleinstadt ganz von den Härten des Alltags in Beschlag genommen, entdeckt dann aber das noch junge Medium der Fotografie für sich. Der unspektakulär und höchst behutsam inszenierte Film vermeidet es, die gezeigten Konflikte künstlich zu dramatisieren, beobachtet vielmehr mit großer erzählerischer Ruhe die kleinen Veränderungen und das Auf und Ab in einem Lebensweg, dem die Fotografie wichtige Impulse liefert als emanzipatorischer Freiraum sowie als Möglichkeit, ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit aufzubauen. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
MARIA LARSSONS EVIGA ÖGONBLICK | MARIA LARSSONS EVIGE ØJEBLIK | IKRUISTETUT HETKET | MARIA LARSSONS EVIGE ØYERBLIKK
Produktionsland
Schweden/Dänemark/Norwegen/Finnland/Deutschland
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Final Cut Prod./Schneider & Groos/Göta Film/Motlys/Blind Spot Pic.
Regie
Jan Troell
Buch
Niklas Rådström
Kamera
Mischa Gavrjusjov · Jan Troell
Musik
Matti Bye
Schnitt
Nils Pagh Andersen
Darsteller
Maria Heiskanen (Maria Larsson) · Mikael Persbrandt (Sigfrid Larsson) · Jesper Christensen (Sebastian Pedersen) · Callin Öhrvall (Maja Larsson mit 15-22) · Nellie Almgren (Maja Larsson mit 8-10)
Länge
110 Minuten
Kinostart
08.04.2010
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Heimkino

Verleih DVD
Arsenal (16:9, 1.78:1, DD5.1 swe./dt.)
DVD kaufen

Diskussion
Man weiß nicht so recht, ob man Maria Larsson für ihre Tapferkeit bewundern soll oder ob sich hinter ihrer fast sturen Duldsamkeit nicht vielmehr Resignation verbirgt. Sie ist weder ein bemitleidenswertes Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse noch eine strahlende Heldenfigur, die diesen zu trotzen vermag. Vor dem Hintergrund der sich Anfang des 20. Jahrhunderts beschleunigenden Industrialisierung spielt der Film in einer Kleinstadt in Schweden. Marias Mann Sigfrid ist Gelegenheitsarbeiter am Hafen, er ist in die Arbeiterkämpfe involviert; es kommt zu Streiks, doch die Leidtragenden sind letztlich die Arbeiter selbst. Maria hat zudem die wiederholten Alkoholexzesse ihres Mannes zu ertragen, da helfen auch seine Beteuerungen, Schwüre und längeren Abstinenzphasen nicht weiter. Polternd und singend kommt er nach Hause, animiert die Kinder zu Clownereien und wird im Streit mit seiner Frau dabei oft gewalttätig. Als einen einseitig groben und gefühllosen Mann zeigt ihn der Film freilich nicht; so einfach macht es sich Jan Troell nicht. Er zeigt Sigfrid in seiner ganzen Ambivalenz zwischen Zärtlichkeit und Härte, Großzügigkeit und engstirniger Eifersucht. Maria leidet an der Schwere und Überpräsenz der Realität, sie arbeitet, schuftet und zieht ein Kind nach dem anderen groß. Ein „Außerhalb“ gibt es nicht. Zufällig entdeckt sie eines Tages in einem Schrank eine unbenutzte Fotokamera mit dem schönen Namen Contessa, die sie vor Jahren bei einer Lotterie gewonnen hat. Maria beginnt zu fotografieren, ihre Kinder, eine Katze auf einem Fensterbrett; dahinter steht weniger Alltagsflucht als vielmehr eine neue Art, die Umgebung wahrzunehmen, diese anders und neu zu sehen. Der mittlerweile 78-jährige Jan Troell zeigt auf behutsame und höchst unspektakuläre Art, wie das Medium der Fotografie in seinen Anfangsjahren die Wahrnehmung der Wirklichkeit entscheidend veränderte. Ein flüchtiger Moment konnte plötzlich festgehalten werden, „ewig“ werden, für Maria ein Wunder, das erst allmählich eine gewisse Selbstverständlichkeit erlangt. Als ein Nachbarskind bei einem tragischen Unfall stirbt, bittet deren Mutter Maria um ein Foto der aufgebahrten Toten. Sie findet ein Stück weit Trost in diesem Bild, das eine gewisse Friedlichkeit ausstrahlt und die Erinnerung an die Tochter für immer konserviert. Troell verzichtet glücklicherweise darauf, seine Protagonistin als eine Künstlerfigur in Szene zu setzen; denn für Maria ist mit der Fotografie vor allem ein emanzipatives Projekt verbunden: Es ist ein Bereich, der nur ihr gehört, der außerhalb der Erwerbsarbeit steht, aber auch außerhalb ihrer familiären Verpflichtungen, ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau. Nach und nach bekommt Maria Aufträge aus der Nachbarschaft; vor allem durch den hereinbrechenden Krieg steigt die Nachfrage nach Familienfotos und Aufnahmen von Männern in Uniform. Sogar in den lokalen Zeitungen werden Marias Fotos publiziert. Durch die zunehmende Anerkennung gewinnt sie an Selbstvertrauen und Autonomie; fortan kann sie sich auch Sigfrid gegenüber besser behaupten. Troell tut gut daran, die Fotografie nicht als Befreiungsschlag zu überhöhen. Maria kann sich trotz der gewalttätigen Übergriffe ihres Mannes nicht dazu durchringen, ihn zu verlassen, und die Contessa wandert immer wieder vernachlässigt in den Schrank, bevor sie dann erneut hervorgekramt wird und ihre Besitzerin buchstäblich „aufweckt“. Erzählt wird in ruhigen Bildern, es gibt viele Braun- und Grautöne, doch nach einem dekorativen Kostümfilm sieht das alles nie aus. Troells Film passt sich ganz den unspektakulären Auf-und Abbewegungen von Maria Larssons Biografie an. Mal verdichtet sich eine Situation, kippt in die Miniatur eines Dramas, um sich dann aber nicht weiter zu steigern, sondern im Gegenteil in ein völlig entschleunigtes, fast behäbiges Tempo überzugehen; das Drama zerstreut sich, schrumpft auf ein Minimum zurück. Auf diese Weise wirkt der Film etwas aus der Zeit gefallen, stilistisch ein wenig antiquiert, aber doch angenehm resistent gegenüber dramaturgischen Regeln (Figurenentwicklung, Spannungsaufbau) und den Konventionen des Historiendramas. Die Veränderungen innerhalb der Figuren sind marginal, sie lösen weder große noch kleine Revolutionen aus, für sie selbst aber sind sie essenziell. „Man sieht, was man sehen will“, sagt Maria Larsson am Anfang des Films lapidar, doch später sieht sie viel mehr als das: Es sind der Fluch und das Wunder der Wirklichkeit gleichzeitig.
Kommentar verfassen

Kommentieren