Ein jüdischer Pferdehändler flieht 1943 kurz vor dem Abtransport in die Todesfabriken im Osten mit seiner kleinen Familie aufs Land. Während er sich in Kammern und auf Dachböden, isoliert von der Außenwelt, versteckt, kommen Frau und Tochter bei einem Bauern im Münsterland unter, mit dem ihn eine Kameradschaft verbindet, die bis in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs zurückreicht. Geradlinig entwickeltes, mit psychologisch klugen Momentaufnahmen angereichertes Drama nach authentischen Erinnerungen. Inszenatorisch gelegentlich holprig, krankt der Film zwar an Vereinfachungen, berührt aber nachhaltig durch hervorragende Schauspieler sowie die betonte Nüchternheit im Umgang mit dem wichtigen Sujet.
- Ab 14.
Unter Bauern - Retter in der Nacht
Drama | Deutschland/Frankreich 2008 | 100 (TV 92) Minuten
Regie: Ludi Boeken
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Filmdaten
- Originaltitel
- MARGA
- Produktionsland
- Deutschland/Frankreich
- Produktionsjahr
- 2008
- Produktionsfirma
- FilmForm Köln/Pandora Filmprod./3L Filmprod./Acajou Films/WDR/arte
- Regie
- Ludi Boeken
- Buch
- Otto Jägersberg · Imo Moszkowicz · Heidrun Schleef
- Kamera
- Dani Schneor
- Musik
- Martin Meissonnier
- Schnitt
- Suzanne Fenn
- Darsteller
- Veronica Ferres (Marga Spiegel) · Armin Rohde (Menne Spiegel) · Louisa Mix (Karin Spiegel) · Margarita Broich (Frau Aschoff) · Martin Horn (Herr Aschoff)
- Länge
- 100 (TV 92) Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Diskussion
Wie der Zweite Weltkrieg unter deutschen Bauern erlebt wurde, zeigte zuletzt Edgar Reitz in einigen Folgen seiner Serie „Heimat“. Weniger atmosphärisch-dicht, aber dafür ähnlich unaufgeregt nähert sich „Unter Bauern“ dem Thema des ländlichen Alltags während der Nazi-Diktatur. Die Handlung ist von der ersten Szene an mit dem Gefühl von Angst und Verunsicherung einer vormals funktionierenden Gemeinschaft durchdrungen, was nicht zuletzt daran liegt, dass sie mit der authentischen Geschichte der jüdischen Familie Spiegel verknüpft ist. Der Vater diente im Ersten Weltkrieg und belieferte später als Pferdehändler aus Ahlen die Bauern des Münsterlandes. Trotz der zunehmenden Drangsalierungen harrte er so lange aus, bis ihn 1943 die Aufforderung zum Abtransport in die Todesfabriken im Osten erreichte. Menne Spiegel (auffällig zurückhaltend gespielt von Armin Rohde) floh mit Frau und Tochter aufs Land und fand Unterschlupf bei befreundeten Bauern, mit denen er Schreckenserlebnisse von der Front teilte. Bauer Aschoff, überzeugtes NSDAP-Mitglied, zeigte sich besonders hilfsbereit. Ihm war die Kirche näher als die Partei, das Gebot der Nächstenliebe eine Selbstverständlichkeit. Obwohl die Aschoffs auf ihrem Hof bereits Ausgebombte und geflohene russische Zwangsarbeiter durchfütterten, nahmen sie Mutter und Tochter unter falscher Identität auf. Währenddessen überlebte Spiegel isoliert von der Außenwelt in Kammern auf wechselnden Bauernhöfen.
Zu den Wohltaten des Films gehört, Margarita Broich als Bauersfrau agieren zu sehen. Sie verkörpert Frau Aschoff als eine anrührende Einheit: einerseits überarbeitet in schlecht sitzender Kleidung mit müden Bewegungen, andererseits voll verzweifelter Energie, mit der sie dem bröckelnden Zusammenhalt in ihrer Familie begegnet. Dabei bäumt sie sich trotz quälender Zweifel verbal und körperlich auf, so resolut und beharrlich, dass es unmöglich ist, sich der Kraft ihrer Gesten zu entziehen. Weder Engel noch vom Gewissen geplagte Mitläuferin, gibt sie ihrer Figur eine instinktive Erdgebundenheit, die es ihr ermöglicht, sich gegen die Verhältnisse zu stellen, couragiert das vermeintlich Unmögliche zu wagen. Nicht weniger beeindruckend debütiert Lia Hoensbroech als Bauerntochter Anni Aschoff, wobei sie den schwersten Part zu absolvieren hat. Dass ihr die Verwandlung vom systemtreuen BDM-Mädel zur besten Freundin der Jüdin Marga Spiegel in wenigen Szenen gelingt, liegt an der für ihr Alter beeindruckenden Bandbreite der Ausdrucksformen. Wenn sie ihre Wahrnehmung des Unrechts um sie herum schärft, glätten sich allmählich ihre hasserfüllten Gesichtszüge, die Reste kindlicher Begeisterung für ein menschenverachtendes Weltbild verwandeln sich in Impfspuren der Desillusionierung. Da wirkt Veronica Ferres in der Rolle der 30-jährigen Marga Spiegel fast blass, wenngleich auch ihr zurückgenommenes Spiel der lebensbedrohlichen Situation ihrer Figur geschuldet ist. Die angespannte, mitunter fast apathische Körperhaltung der eleganten Akademikerin verrät ohnehin Bände: In einer Umgebung, die von Sozialneid, Misstrauen und willkürlicher Denunziation geprägt ist, reicht ein falscher Blick, um den Unmut seiner Retter heraufzubeschwören. Die latente Ambivalenz in den Stimmungen der Bauernfamilie, die das Leben Fremder rettet, aber ihren viel zu jungen Sohn an der Ostfront verliert, die in ihrer Zerrissenheit zwischen moralischen Prinzipien und Selbsterhaltungstrieb schwankt, ist ein weiterer Vorzug von „Unter Bauern“.
Der gänzlich unsentimentale Zugang zum mit Vorliebe spektakulär inszeniertem „Retter-Stoff“ mag an dem aus einer holländisch-jüdischen Familie stammenden Regisseur Ludi Boeken liegen, dessen eigene Eltern von christlichen Bauern in den Niederlanden gerettet wurden. Er folgt weitgehend den Erinnerungen der heute 97-jährigen Marga Spiegel (der Tante des 2006 verstorbenen Paul Spiegel, einst Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland) die 1962 unter dem Titel „Retter in der Nacht“ erschienen. Boeken schildert sie geradlinig, angereichert mit psychologisch klugen Momentaufnahmen, aber auch ohne inszenatorische Einfälle. Dass er dem seit Daniel Goldhagen und Jonathan Littell neu aufgeflammten Diskurs um individuelle und kollektive deutsche Nachkriegslebenslügen nichts Neues hinzufügt, lässt sich verkraften; dass er sich filmisch mit dem Niveau eines besseren TV-Movies begnügt, ist eine herbe Enttäuschung. Dramaturgisch holprige Zuspitzungen wechseln sich in der zweiten Hälfte mit unnötigen Vereinfachungen ab, wenn das Drehbuch etwa die Tochter der Aschoffs zu einer BND-Uniform tragenden NSDAP-Anhängerin umschreibt, die sie nie war. Ohnehin tauchen fanatische Nazis nur in Gestalt von pubertierenden Jugendlichen auf; mordende SS-Einheiten erscheinen erst kurz vor Kriegsende, um Kriegsunwillige zu exekutieren. Und doch gelingt „Unter Bauern“ das Kunststück, nüchtern das Drama zweier ungleicher Familien zu erzählen und emotional zu berühren. Unvergesslich bleibt das Schlussbild, wenn Marga Spiegel mild lächelnd vor der versammelten Crew posiert.
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