Hotel Sahara (2008)

Dokumentarfilm | Deutschland 2008 | 89 (gek. 52) Minuten

Regie: Bettina Haasen

Dokumentarfilm über afrikanische Migranten, die in der mauretanischen Hafenstadt Nouadhibou teilweise jahrelang darauf warten, einen Weg über die Kanaren nach Europa zu finden. Man begegnet Menschen, die sich trotz vieler desillusionierender Erfahrungen an ihren Träumen wie an Rettungsankern festklammern. Ein stiller, aufmerksamer Film voller eigenwilliger Schönheit, der die Vorläufigkeit einer Existenz "auf dem Sprung" in ein facettenreiches Mosaik aus beiläufigen Bildern und Tönen übersetzt. (O.m.d.U.) - Ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Gebrüder Beetz Filmproduktion /ZDF/ARTE
Regie
Bettina Haasen
Buch
Bettina Haasen
Kamera
Jacko van't Hof
Musik
Karsten Höfer & The Durgas
Schnitt
Kristine Langner
Länge
89 (gek. 52) Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

Diskussion
Der Homo sapiens, sagen die Anthropologen, stammt aus Afrika. Um sich über die ganze Welt zu verbreiten, war vor allem eines nötig: der Wille, sich nicht mit ungenügenden Lebensumständen abzufinden. Bis heute hat die Menschheit diese Fähigkeit nicht verloren. Davon zeugen die Nachrichten von verzweifelten Flüchtlingen, die sich auf Nussschalen dem Meer aussetzen, um in fruchtbarere Regionen zu gelangen. Auf den ersten Bildern von Bettina Haasens Dokumentarfilm „Hotel Sahara“ sieht man solche Boote, die vom aufgewühlten Atlantik wie Treibgut hin- und hergeworfen werden, offene Pirogen, irgendwo zwischen westafrikanischer Küste und den Kanaren. 1000 Kilometer liegen vor den Flüchtlingen – und viele Tote unter ihnen auf dem Meeresgrund, weil die illegale Migration dann am ehesten Erfolg verspricht, wenn die Wetterbedingungen am bedrohlichsten sind: stürmische See, schlechte Sicht – dann bleiben die Hubschrauber der Guardia Civil am Boden und ihre Schiffe im sicheren Hafen. Nur ein Bruchteil der Afrikaner, die nach Europa wollen, kommt dort an. Von den anderen hört man so gut wie nie. Viele sterben, noch viel mehr scheitern bereits beim Versuch, die horrenden Kosten aufzubringen. Für manche ist Nouadhibou die Endstation, eine schmucklose Stadt am westlichsten Zipfel von Mauretanien. Hier müssen alle durch, die nicht über die Sahara, sondern via Gran Canaria den Weg in den Norden suchen. In Haasens Film begegnet man jungen Menschen aus Ghana, Kamerun, Togo, Nigeria oder Guinea, die sich teilweise schon jahrelang hier aufhalten. Alle eint ein vergleichbares Schicksal: irgendwann aufgebrochen zu sein, mit Unterstützung ihrer Familie oder heimlich, aber in der festen Absicht, die Angehörigen zu unterstützen, sobald die Flucht ins Land der Träume geschafft ist. Doch um auf eines der ausgemusterten Fischerboote zu kommen, braucht man viel Geld, weshalb die meisten Migranten in Nouadhibou erst Arbeit suchen, sich provisorisch niederlassen, in einem Schmelztiegel, der beständig mehr Menschen aufnimmt als er Richtung Spanien weiterschickt. Der Strand bei Nouadhibou ist übersät mit rostenden Schiffswracks und verrotteten Planken, die von gescheiterten Träumen und Existenzen erzählen. In ihren Schatten flieht bisweilen der 22-jährige Valtis. Er ist einer von denen, die die Armut zu Hause nicht mehr ertrugen. Also stahl er sich davon in der Hoffnung, bald für bessere Zustände zu sorgen. Doch seine Illusionen sind längst zerstoben; heute schlägt er sich als Taxifahrer durch und redet sich ein, dass er gerne unterwegs sei, um andere Welten und Mentalitäten zu entdecken. Der Film hinterfragt solche Sätze nicht, sondern verwendet viel Energie darauf, den Protagonisten in signifikanten Kontexten zu zeigen: wie er an Silvester mit seiner Familie in Kamerun telefoniert, wobei er sich an den guten Wünschen zum neuen Jahr wie an einer Rakete festklammert, die endlich abheben soll. Nach dem Gespräch wirkt Valtis erleichtert, fast wie von einer Last befreit; Sekunden später aber hat ihn die Nacht geschluckt, ehe die Rührung und das Heimweh zu offenkundig werden. Die Zukunft, von der hier alle mit so viel Emphase reden, ist das einzige, was denen bleibt, die alle Brücken hinter sich abgebrochen haben, denn mit leeren Händen und dem Eingeständnis, gescheitert zu sein, will keiner den Rückweg antreten. Trotzdem ist „Hotel Sahara“ ein Film von eigenwilliger Schönheit. Das liegt primär am inszenatorischen Konzept, auf keinen Fall reportageähnliche Bilder und Töne fürs Infotainment zu produzieren, das die Not der Migranten ein weiteres Mal ausschlachten würde. Haasen war vielmehr am Dasein der Flüchtlinge im Wartezustand interessiert, was die Bild- und Tonsprache eindrucksvoll als geduldiges Mosaik beiläufiger Facetten und Details in fragmentarische Vorläufigkeit übersetzt. Insbesondere der Kamera wurde experimentelle Freiheit eingeräumt und das Material in der Postproduktion zusätzlich akzentuiert. So läuft der 20-jährige Fußballer Lamiya aus Guinea als roter Schemen dem Publikum aus einer weiß-flimmernden Unendlichkeit entgegen und breitet dabei im Off seine Träume aus, wie Kaka oder Eto’o beim FC Barcelona zu landen, bis der Umschnitt zu erkennen gibt, dass er über eine Sandpiste am Rande der Wüste trabt. Der White-Screen steht dabei für vieles: für optisches Raffinement, erzählerische Spannung, für Lamiyas Sehnsüchte, aber auch für sein Vermögen, sich mental die unterschiedlichsten „Passpartouts“ vorzustellen, wie überhaupt die sprachlichen Fähigkeiten der Migranten aufhorchen lassen, die bisweilen sogar schon den Slang ihrer Wunschwelten intonieren. Wo die Hoffnung so grenzenlos wuchert, bleibt für die Angst nur wenig Raum, selbst für einen wie Lamiya, der schon einmal die Fahrt übers Meer gewagt hat – und mit dem Leben davongekommen ist.
Kommentar verfassen

Kommentieren