Slumdog Millionär
Drama | Großbritannien/USA 2008 | 120 Minuten
Regie: Danny Boyle
Filmdaten
- Originaltitel
- SLUMDOG MILLIONAIRE
- Produktionsland
- Großbritannien/USA
- Produktionsjahr
- 2008
- Produktionsfirma
- Celador/Film4
- Regie
- Danny Boyle · Loveleen Tandan
- Buch
- Simon Beaufoy
- Kamera
- Anthony Dod Mantle
- Musik
- A.R. Rahman
- Schnitt
- Chris Dickens
- Darsteller
- Dev Patel (Jamal Malik) · Anil Kapoor (Prem Kumar) · Freida Pinto (Latika) · Irrfan Khan (Polizeiinspektor) · Saurabh Shukla (Sergeant Srinivas)
- Länge
- 120 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Drama
- Externe Links
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Heimkino
Die Standard BD/DVD enthält u.a. eine deutsche Audiodeskription für Sehbehinderte. Die sog. "Limitierte Millionär Edition" (2 DVD) und die BD enthalten zudem u.a. einen informativen Audiokommentar des Regisseurs und des Darstellers Dev Patel sowie einen auf die Produktionsbedingungen fokussierten Audiokommentar des Drehbuchautors Simon Beaufoy und des Produzenten Christian Colson. Die Extras umfassen des Weitern das Feature "Slumdog Dreams: Danny Boyle und die Entstehung von Slumdog Millionär" (23 Min.) sowie ein Feature mit zwöf im Film nicht verwendeten Szenen (34 Min.). Die "Limitierte Millionär Edition" und die BD sind mit dem Silberling 2009 ausgezeichnet.
Furioser und unmittelbarer kann man kaum in eine Filmwelt hineingezogen werden: Die Kamera hetzt und klettert zusammen mit einer Horde von Straßenkindern auf der Flucht vor der Polizei durch die Gassen und Winkel eines Slums, schlängelt sich durch dichte Menschenmassen und schäbig-improvisierte Bauten. Ein atemlos rasanter, ungeheuer dynamischer Taumel durch eine wildwuchernde Lebenswelt, in der sich die kleinen „Slumdogs“ so traumwandlerisch sicher bewegen und ihren Jägern so raffinierte Schnippchen schlagen, wie es einst der „Dieb von Bagdad“ in den pittoresken Straßen des alten Märchen-Bagdads tat. Nur dass hier das Setting keine technicolorbunte Studiokulisse ist; stattdessen erkundet die agile Handkamera einen Originalschauplatz in den Slums von Mumbai und neben den Schauspielern agieren authentische Bewohner.
In Indien wurde Danny Boyles Film „Slumdog Millionaire“, der mit BAFTAs, Golden Globes und Oscars überhäuft wurde, nichtsdestotrotz der Vorwurf gemacht, ein weiteres Zeugnis des westlichen Orientalismus zu sein: ein Gemisch aus exotistischer Schaulust und der Rückversicherung westlicher Überlegenheit angesichts des „rückständigen“ Fremden. Der Film würde Indien herabwürdigen; der Begriff „Slumdog“ sei diskriminierend. Einer der prominenten Wortführer dieser Kritiker war Bollywood-Superstar Amitabh Bachchan – dem in „Slumdog Millionaire“ eine reizende Hommage gewidmet ist, scheut der Held des Films doch nicht davor zurück, bis über beide Ohren in eine Kloake abzutauchen, um zu seinem Star „Big B“ zu gelangen und ein Autogramm von ihm zu ergattern.
Die Ablehnung von Boyles Film offenbart indes eher patriotische Empfindlichkeiten als Schwächen der Inszenierung, die mit neugierigem Blick in ihr Sujet eintaucht. Was dabei an Missständen offenbart wird – etwa die Ausschreitungen hinduistischer Fanatiker gegen Moslems in den 1990er-Jahren, die Anwendung der Folter bei Polizeiverhören oder die Verstümmelung von Straßenkindern, um sie zu „besseren“ Bettlern zu machen – entspringt leider der Wirklichkeit; herabgewürdigt wird hier nicht die Slumbevölkerung, sondern die menschenverachtende Logik, dass ein Mensch nur so viel Wert ist, wie er besitzt oder wie sich mit ihm verdienen lässt.
Dieses perverse Gebahren ist kein indisches, sondern ein globales Problem, genauso wie das Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich. So intensiv Boyle und sein Team auch in die indische Lebenswelt eintauchen: Das virtuos zwischen Sozialdrama, Komödie, Liebes- und Gansterfilm und Bollywood-Märchen oszillierende Werk ist primär kein Film über Indien, sondern philosophiert aus einem humanistischen Geist über die Macht des Geldes – und deren Grenzen.
Nicht umsonst ist der dramaturgische Dreh- und Angelpunkt der auf mehreren Zeitebenen spielenden Geschichte die indische Variante von „Wer wird Millionär?“. Jamal, ein Straßenjunge aus den Slums, nimmt als Kandidat an der Fernsehshow mit ihrer kapitalistischen Heilsverheißung teil und kommt im „Q&A“-Spiel so weit, dass die Polizei brutal aus ihm herausfoltern will, mit welchen Tricks ein ungebildeter „Slumdog“ wie Jamal sich diesen Erfolg erschlichen habe. Allerdings geht es Jamal gar nicht um das Preisgeld, und hinter seinem Wissen steckt auch keine Betrügerei, sondern eine höchst dramatische Lebens- und Liebesgeschichte, die der Film Stück für Stück, Antwort für Antwort, entfaltet.
Frei nach einem Roman von Vikas Swarup entwickeln Drehbuchautor Simon Beaufoy („Ganz oder gar nicht“) und Regisseur Danny Boyle hier ein Panorama, das bei allen rasanten Kamera-Erkundungszügen und trotz des mitreißenden Bollywood-HipHop von A.R. Rahman ein bisschen an die Romane Charles Dickens’ erinnert: mit seinem scharfen Blick auf die Entmenschlichung, mit der Armut, Elend und Ungerechtigkeit ihre Opfer bedrohen, aber auch mit seinem Festhalten an einem Helden, der als moralisches Individuum nicht in den materiellen Zwängen aufgeht, sondern hartnäckig an seiner große Liebe – und damit an seiner Menschlichkeit – festhält.
Fast noch berührender als die bewegte Liebesgeschichte zwischen Jamal und dem Mädchen Latika, die bereits beginnt, als sich beide als Waisenkinder gemeinsam im Slum durchschlagen, ist die spannungsvolle Beziehung zwischen Jamal und seinem Bruder Salim – eine Konstellation, die Danny Bolye in „Millions“ ganz ähnlich durchgespielt hat. Auch hier wurde ein idealisierter, „reiner“ Held, dessen Integrität nicht zu erschüttern ist, mit einer realistischeren, ambivalenten Bruderfigur kontrastiert, die bereit ist, mit den Haien zu schwimmen, um innerhalb einer vom Geld regierten Welt zu bestehen. Was in dem Kinderfilm noch relativ harmlos blieb, wird in „Slumdog Millionaire“ nun zur veritablen Tragödie: Anders als Jamal richtet sich Salims Streben nicht auf eine große Liebe, sondern er setzt alles daran, sich aus seinen miserablen Verhältnissen herauszustrampeln – wobei er nicht nur die Grenze zur Kriminalität überschreitet, sondern immer wieder auch seinen kleinen Bruder verletzt.
Ohne diese Kontrastfigur, die ständig die harte Wirklichkeit in Erinnerung ruft, wäre „Slumdog Millionaire“ nur ein schönes, berührendes Sozialmärchen; so aber ist es ein ebenso emotionaler wie kluger Film über die Manipulation des Menschen durch den Kapitalismus – und eine Utopie der Freiheit, dieser Manipulation Widerstand zu leisten.