Mit dem Tod der Ehefrau scheint ein Mann mittleren Alters einigermaßen gut zurecht zu kommen. Allerdings bringt er es nicht über sich, in seinen Arbeitsalltag zurückzukehren, sondern wartet Tag für Tag vor der Schule seiner Tochter, bis deren Unterricht vorbei ist. Dabei trifft er auf Fremde und wird zum Anlaufpunkt für Verwandte, Freunde und Kollegen. Der heiter-melancholische Film greift das Thema "Trauer" mit bestechender Leichtigkeit auf, hinter deren Oberfläche indes weise Reflexionen über menschliche Beziehungen und Entfremdungen stecken - und nicht zuletzt über den Wert des Lebens.
- Sehenswert ab 16.
Stilles Chaos
- | Italien/Großbritannien 2007 | 112 Minuten
Regie: Antonio Luigi Grimaldi
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Filmdaten
- Originaltitel
- CAOS CALMO | QUIET CHAOS
- Produktionsland
- Italien/Großbritannien
- Produktionsjahr
- 2007
- Produktionsfirma
- Fandango/Portobello/Phoenix/RAI Cinema
- Regie
- Antonio Luigi Grimaldi
- Buch
- Nanni Moretti · Laura Paolucci · Francesco Piccolo
- Kamera
- Alessandro Pesci
- Musik
- Paolo Buonvino
- Schnitt
- Angelo Nicolini
- Darsteller
- Nanni Moretti (Pietro Paladini) · Valeria Golino (Marta) · Alessandro Gassman (Carlo) · Isabella Ferrari (Eleonora Simoncini) · Silvio Orlando (Samuele)
- Länge
- 112 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Verglichen mit der erschütternden Wucht, die der Tod des Sohnes in Nanni Morettis Film „Das Zimmer meines Sohnes“ (fd 35 156) hatte, wirkt der Einbruch des Todes in das Leben des Geschäftsmannes Pietro (gespielt von Nanni Moretti) nach einer dramatischen Eröffnungssequenz fast beiläufig. Die Auseinandersetzung mit diesem Verlust, auf die sich „Stilles Chaos“ im Folgenden einlässt, steht indes an Weisheit und in ihrer nie in Rührseligkeit abdriftenden Empathie mit ihren Charakteren dem älteren Film in nichts nach. Pietro, ein agiler Mann in mittleren Jahren, kommt von einem Strandausflug, bei dem er in einer mutigen Rettungsaktion eine Fremde vor dem Ertrinken bewahrte, zurück in sein Feriendomizil. Dort ist schon ein Rettungswagen vorgefahren: Seine Frau liegt zwischen heruntergefallenen Melonenstücken tot vor dem Haus auf dem Boden. Die Kamera mag nicht genauer hinschauen. In der nächsten Sequenz befindet man sich schon auf dem Friedhof beim Begräbnis; Pietro nimmt die Beileidsbezeugungen gefasst entgegen. Keine Zusammenbrüche, keine Tränen; auch Pietros kleine Tochter scheint verhältnismäßig gut mit dem Verlust zurecht zu kommen. Doch als die Kleine wieder zur Schule gehen soll, wird klar, dass Pietros Leben nicht einfach weitergehen kann wie bisher. Als er sich am Schultor von ihr verabschieden soll, verspricht Pietro seiner Tochter, dass er vor dem Gebäude auf sie warten will, den ganzen Tag. Seine Sekretärin informiert er am Telefon, dass er nicht zur Arbeit komme. Dann macht er es sich in dem kleinen Park vor der Schule – Bäume, einige Bänke, eine kleine Imbiss-Bar – bequem. Dort bleibt er, bis das Töchterchen nachmittags die Schule wieder verlässt und er mit ihr nach Hause fährt. Der nächste Tag läuft genauso ab, und alle folgenden Tage auch. Pietro beobachtet die Leute, die täglich an diesem Platz verkehren, kommt in Kontakt mit ihnen und wird zur Anlaufstelle für Verwandte, Freunde und Kollegen, die schauen wollen, wie es dem Witwer geht oder Probleme mit ihm zu besprechen haben – private Probleme wie die seiner neurotischen Schwägerin, die behauptet, seine Frau sei mit ihm unglücklich gewesen, oder berufliche Nöte seiner Kollegen aus der Führungsetage eines Medienunternehmens, dessen geplante Fusionierung mit einem anderen Konzern heftige Kontroversen auslöst.
Antonio Grimaldis Film, zurückhaltend in der Inszenierung, liebevoll im Umgang mit seinen Figuren, verharrt stetig an der Seite des Witwers. Es scheint nicht Kummer zu sein, was Pietro an der Rückkehr in seinen Alltag hindert, und auch nicht akute Sorge um die Tochter; er wirkt während seiner Wartezeiten nicht zergrämt, sondern offen und weitgehend entspannt; ähnliches gilt für den Erzählton des Films. Ein bisschen kommt einem dieser Pietro wie jemand vor, der schlafwandelte und nun nach dem Aufwachen erst einmal still stehen bleibt und sich mit leiser Verwunderung umsieht, um sich zu orientieren. Dabei stößt er sich immer wieder an der Frage, warum er nicht intensiver um seine Frau trauern kann. Sie, um deren Tod der halb komische, halb tragische Figuren-Reigen des Films letztlich gruppiert ist, bleibt eine Art Leerstelle, ein Geheimnis: Es gibt keine erklärenden Rückblenden und keine großen Enthüllungen. Nur ganz diskret wird das Bild einer durchschnittlichen, großbürgerlichen Ehe entwickelt, in der wohl im Lauf der Jahre eine Entfremdung einsetzte, die dafür sorgte, dass sich beide Partner im Grunde schon lange vor dem Tod der Frau aus den Augen verloren haben. Es mag die Irritation über diese Erkenntnis sein, wie unbemerkt einem ein geliebter Mensch entgleiten kann, die Pietro nun die Nähe seines Kindes suchen lässt und ihn so aufmerksam macht für seine Umgebung, für die Menschen um sich herum und auch für sich selbst. Gespiegelt wird das Thema in zahlreichen klug gewählten Motiven und Seitenschicksalen, die über Pietros unterschiedliche Begegnungen in den Film einfließen, etwa über die Geschichte jener Frau, die Pietro zu Beginn aus dem Meer rettete. Später ist es eine in drastischer Deutlichkeit gezeigte und doch auch surreal wie ein Traum anmutende Sexszene mit ihr, die seine allmähliche Ablösung aus dem eigenartig wachen Schwebezustand markiert, den sein Innehalten vor der Schule darstellt. Einmal mehr balanciert Nanni Morettis Schauspiel dabei virtuos zwischen Heiterkeit und Melancholie, flankiert von Nebenfiguren, die sich unter Grimaldis Regie trotz ihrer verhältnismäßig großen Anzahl zu präzise gezeichneten, lebendigen Charakteren entwickeln. Wie fast alle guten Filme, die sich am Tod abarbeiten, ist „Stilles Chaos“ dank seines unspektakulären, aber umso berührenderen Panoramas aus menschlichen Nöten, Freuden und alltäglichen Ritualen nicht zuletzt eine wunderbare Neuentdeckung des Lebens.
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