Deutschland im Frühjahr 1990. Ein Jugendlicher in einer westdeutschen Provinzstadt, der auf verdrängte Familienprobleme mit Neurodermitis reagiert, begibt sich auf eine verzweifelte Ich-Suche, weil er sich mit seinem Unglücklichsein nicht abfinden will. Ein genau beobachtender Film über eine schmerzhafte Selbstfindung und Ausgrenzung, der durch seine wunderbar rhythmisierte Struktur überzeugt. Durch seinen historischen Hintergrund liefert das überzeugende Debüt zugleich eine Studie über die Stimmungslage und das Ende der alten Bundesrepublik Deutschland.
- Sehenswert ab 16.
Neandertal
- | Deutschland 2006 | 105 Minuten
Regie: Ingo Haeb
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2006
- Produktionsfirma
- Rommel Film/GFP Medienfonds/ZDF (Das kleine Fernsehspiel)/arte
- Regie
- Ingo Haeb · Jan Christoph Glaser
- Buch
- Ingo Haeb
- Kamera
- Ralf M. Mendle
- Musik
- Jakob Ilja
- Schnitt
- Sarah J. Levine
- Darsteller
- Jacob Matschenz (Guido) · Andreas Schmidt (Rudi) · Johanna Gastdorf (Mutter) · Falk Rockstroh (Vater) · Tim Egloff (Martin)
- Länge
- 105 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 16; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Während erfreulich viele Regisseure der Mittdreißiger-Generation inzwischen im Hier und Jetzt ankommen und eine erste Bilanz ihrer unbeständigen Post-Twen-Existenzen ziehen – zuletzt Stefan Krohmer in „Mitte 30“ oder Barbara Albert in „Fallen“ (fd 38 552) –, begnügen sich andere immer noch mit den Coming-of-Age-Geschichten ihrer Jugend. Im Fall von „Neandertal“ nimmt man das leidlich abgenutzte Konzept hin, wagt sich das Debüt doch an ein in den Industrieländern so weit verbreitetes wie medial gerne tabuisiertes Krankheitsbild heran: Neurodermitis. Ein Teenager mit einer sozial ausgrenzenden Hauterkrankung ist immer noch ein Teenager, scheinen KHM-Absolvent Ingo Haeb und sein Co-Regisseur Jan-Christoph Glaser vermitteln zu wollen. Grund zum jugendlichen Widerstand gibt es in der kleinbürgerlichen Familienidylle im Provinzstädtchen Neandertal genug: Der apokalyptisch gestimmte und zum Ausgleich seit Jahren fremdgehende Vater hat sich längst in brummiger Unnahbarkeit eingerichtet, während die scheinbar stoisch betrogene Mutter heimlich ihre Blessuren mit Alkohol betäubt. Man gibt sich geordnet, redet aber kaum miteinander – selbst die zum Himmel schreiende Krankheit des Sohns wird zum Nebenkriegsschauplatz erklärt. Die übliche Mixtur, die andere Teenager mit temporärer Widerspenstigkeit überbrücken. Für Guido sind die verdrängten Familienkonflikte und die täglich vorgespielte Harmonie am Frühstückstisch aber der Nährboden für einen Gefühlsstau, der sich an seiner Haut wie ein Flächenbrand entlädt.
Der 1970 geborene Haeb, bisher als Drehbuchautor von „Am Tag als Bobby Ewing starb“ (fd 37 078) und Schauspieler in „Sie haben Knut“ (fd 36 209) bekannt, weiß, wovon er spricht, war er doch selbst in der Jugend an Neurodermitis erkrankt. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass sein Drehbuch einen erstaunlich präzisen und nie sich abwendenden Blick auf die Symptomatik findet. Wenn der 17-jährige Guido trotz Diäten, spezieller Kleidung und aseptischer Zimmereinrichtung das Kratzen nicht unterlassen kann und die Haut blutig scheuert, bleibt die Kamera in Großaufnahme bei ihm, lässt nichts aus, selbst nicht die verzweifelten Selbstmordversuche am Zuggleis, die Albträume und Visionen, in denen er sich in drastischer Langsamkeit bis zum nackten Fleisch selbst häutet und in die Tiefen einer imaginären, bräunlich-porös schimmernden und Erlösung versprechenden Wasserwelt abtaucht. Es sind solch visuell ambitionierte, zur realistischen Machart kontrapunktisch gesetzte Szenen, die den nicht zuletzt durch die Off-Stimme des Protagonisten wunderbar rhythmisch strukturierten Film zu einem Erlebnis machen. Neben der stimmungsvoll lärmenden Gitarrenmusik dienen sie als wehmütige Erinnerungsstücke der MTV-Generation, die ihr Etikett der experimentellen Frühzeit eines inzwischen bedeutungslosen Musiksenders verdankt.
Das Credo des Regie-Duos, das Erwachsenwerden des leidgeprüften Helden so authentisch wie unverkrampft zu erzählen, zeigt sich gleich am Anfang in einer langen Kamerafahrt über enge Bürgersteige einer austauschbaren Reihenhaussiedlung, die Guido jeden Morgen auf dem Schulweg in Begleitung seines Kumpels hinter sich lässt. Die Musik signalisiert dabei schwellenden Aufruhr, und man wähnt sich fast in einem deutschen „Trainspotting“ (fd 32 052), als die Freunde zielsicher den nächsten Kiosk ansteuern, um anschließend mit Alkohol abgefüllt den Unterricht an sich vorbeirauschen zu lassen. Dabei müht sich der Lehrer sichtlich, den angehenden Abiturienten die historische Tragweite der Wiedervereinigung zu verdeutlichen. Selbstironie und die genaue historische und soziale Einbindung machen diese auf den ersten Blick düstere Studie einer Ich-Suche, die sich mit dem Unglücklichsein nicht abfinden will, zu einem im deutschen Nachwuchsfilm selten kurzweiligen Vergnügen. Im Frühjahr 1990 überbieten sich Fernsehen und Radio in der Berichterstattung über die Folgen des Mauerfalls; die „Ossis“ genießen im Westen den Status sonderbarer „Neandertaler“, die sich bestens als Projektionsfläche für selbstgerechte Witze eignen. Nur Guido kann nie mitlachen, weiß er doch, wie es sich anfühlt, unter einem Stigma zu leiden. Als das familiäre Lügengebäude zerbricht, flüchtet er in die WG seines älteren Bruders. Dort findet er einen mit der RAF und der Weltrevolution kokettierenden Ersatzvater, dessen hohl klingende politische Sprechblasen indes bald fatal an die von Guidos Vater erinnern. Immerhin durchlebt er mit dem Kleingangster einen ersten hedonistischen Emanzipationsschub – Kiffen, Saufen, Frauen abschleppen, Autos knacken inklusive. Mit dem zunehmenden Spaß-Faktor verschwindet fern der Familie auch die Krankheit, bis sich der neue Freund als labiler Psychotiker entpuppt und sein Heil im Selbstmord sucht.
Eine Desillusionierungsgeschichte über eine wütende Adoleszenz, die zugleich vom Ende der alten Bundesrepublik erzählt, im Schlussakkord irritierend hoffnungsvoll in die Zukunft schaut, ihre Relevanz nicht zuletzt aber durch die stimmige Zeichnung des Lebensgefühls unter westdeutschen Jugendlichen um die Wendezeit gewinnt. Zwischen Fußball-WM, Jugoslawien-Krieg und dem letzten sinnlosen Aufbäumen der RAF nimmt sie eine skeptische Gegenposition zum saturiert stillstehenden Wohlstandsparadies der „Generation Golf“ ein.
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