Ein Geheimnis

Drama | Frankreich 2007 | 106 Minuten

Regie: Claude Miller

Ein schwächlicher achtjähriger Junge erfindet im Jahr 1955 einen imaginären Bruder, der die hohen sportlichen Erwartungen seiner kraftstrotzenden Eltern erfüllen kann. Sieben Jahre später erfährt er, dass er während des Zweiten Weltkriegs tatsächlich einen Halbbruder hatte, der mit der ersten Frau seines Vaters in Auschwitz ermordet wurde. Adaption des autobiografischen Buchs von Philippe Grimbert, die auf mehreren Zeitebenen Erinnerungen und die Verdrängung traumatischer Erlebnisse thematisiert und eindrucksvoll ein verdichtetes, mit Bedeutung aufgeladenes, psychoanalytisch geschultes Familiendrama entwickelt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
UN SECRET
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
Soficinéma 2/Soficinéma 3/UGC/France 3 Cinéma
Regie
Claude Miller
Buch
Claude Miller · Natalie Carter
Kamera
Gérard de Battista
Musik
Zbigniew Preisner
Schnitt
Véronique Lange
Darsteller
Cécile de France (Tania) · Patrick Bruel (Maxime Nathan Grinberg) · Ludivine Sagnier (Hannah Golda Stirn Grinberg) · Julie Depardieu (Louise) · Mathieu Amalric (François Grimbert (im Alter von 37 Jahren))
Länge
106 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
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Diskussion
Zehn Jahre nach dem zweiten Weltkrieg ist die Welt wieder in Ordnung, so scheint es zumindest. „Ein Geheimnis“ nimmt seinen Anfang in einem Schwimmbad, einem Ort der Unbeschwertheit und Leichtigkeit. Es ist Sommer. Doch für den siebenjährigen François ist diese Bühne für schöne und sportliche Körper mit Gefühlen wie Unzulänglichkeit und Scham verbunden. Er ist dünn, kraftlos und ängstlich. Während er frierend aus dem Wasser flüchtet, sieht er bewundernd seiner schönen Mutter bei einem perfekten Kopfsprung zu. Die Vitalität seiner Eltern wirkt auf ihn bedrohlich, geradezu übermenschlich: Seine Mutter Tania, die ihn beschützt, ist eine passionierte Schwimmerin, der Vater, Maxime, ein durchtrainierter ehemaliger Turner, dem die Enttäuschung über seinen Sohn ins Gesicht geschrieben steht. François imaginiert einen Bruder, einen Doppelgänger, der die Erwartungen der anderen erfüllt und für ihn so real wird, dass er beim Abendessen sogar den Tisch für ihn mitdeckt. An seinem 15. Geburtstag erst erfährt François, dass dieser erdachte Phantom-Bruder im Grunde ein Wiedergänger aus der Vergangenheit der Eltern ist, die eng mit der Geschichte des Holocaust verbunden ist. Denn der Vater hat seine erste Frau Hannah und den gemeinsamen Sohn in Auschwitz verloren – auf der Flucht mit falschen Papieren hat Hannah ihre jüdische Identität bei einer Passkontrolle in einem demonstrativen Akt zu erkennen gegeben – aus Rache gegenüber Maxime, den sie schon an Tania verloren sah. Ein unerklärlicher Rest bleibt dennoch; zu krass ist diese Handlung, die den eigenen Sohn mit in den Tod nimmt. „Ein Geheimnis“ ist die Verfilmung des gleichnamigen Buchs von Philippe Grimbert, der nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Psychoanalytiker tätig ist. Dieser Hintergrund ist in der Erzählung deutlich zu spüren: Es geht um Erinnerung und Verdrängung, um das Hervorholen von Vergessenem und die Einschreibung traumatischer Erlebnisse. Dabei springt Claude Millers Film ausgesprochen flüssig zwischen den Zeiten und fächert auf diese Weise verschiedene Ebenen von Realität auf: eine Gegenwart in Schwarz-Weiß-Bildern Mitte der 1980er-Jahre, 1962, das Jahr, in dem François die Wahrheit über seine Familie von der jüdischen Nachbarin erfährt, 1955 und 1936. Zusammengehalten werden die unterschiedlichen Zeitebenen durch wiederkehrende Motive, Orte und Gegenstände, die Verbindungen und Kontinuitäten sichtbar machen, aber eben auch Risse und tiefen Schnitte zum Vorschein bringen. So wird etwa das Schwimmbad, in dem in den 1930er-Jahren ein wahrer Körperkult zelebriert wird, schon bald zum tabuisierten Ort für Juden, während der Körperkult unter den Nazis zur Ideologie erhoben wird. Demgegenüber stehen die schockierenden Archivbilder aus den Konzentrationslagern, die François im Schulunterricht zu sehen bekommt und die von der Vernichtung und Auflösung des Körpers erzählen. Oder ein Stofftier, das Tania Maximes neugeborenem Sohn schenkt, wird zum symbolisch aufgeladenen Objekt: In einem alten Koffer auf dem Dachboden verbannt, fördert es, wieder zum Vorschein gebracht, schmerzvolle Erinnerungen zu Tage. Gefühle äußern sich in Millers Film nie direkt, sondern manifestieren sich – und auch diese Sicht erscheint psychoanalytisch geschult – in verschobenen Handlungen. So wird der versehentlich unter ein Auto geratene Hund von Maxime betrauert wie ein verstorbenes Kind, doch seine Schuldgefühle erzählen eigentlich von etwas anderem. „Ein Geheimnis“ erzeugt ein extrem dichtes und aufgeladenes Szenario aus Geschichte, persönlichem Erleben und Erinnerung – manchmal allerdings wünscht man sich einen etwas weniger demonstrativen Gestus, mehr Leerraum. Nichts geschieht ohne Bedeutung in diesem Film. Die Ebene vor dem Krieg ist in Sepiafarben gefilmt, sie entwirft ein strahlendes Bild dieser Zeit und lässt nichts von der anrückenden Katastrophe ahnen. Dagegen macht die Gegenwart mit ihren Schwarzweiß-Bildern einen fast tristen Eindruck. Sie erscheint wenig greifbar und entwickelt nur schwerfällig ein Eigenleben. Immer sehr verkürzt bricht sie in die Vergangenheit ein, was eine interessante Umkehrung darstellt: Die Vergangenheit ist gegenwärtiger als die Gegenwart.
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