Nathan der Weise

- | Deutschland 1922 | 123 Minuten

Regie: Manfred Noa

Stummfilm nach Lessings humanistischem Drama, angesiedelt im Jerusalem des 12. Jahrhunderts zur Zeit der Kreuzzüge, als Christen, Juden und der Islam unmittelbar aufeinandertrafen. Der bildgewaltige, eindrucksvoll inszenierte und faszinierend gespielte Ausstattungsfilm, dessen Titelcharakter durch seine Weitsicht die verschiedenen Glaubensrichtungen zum versöhnlichen Einlenken bringt, ist das Musterbeispiel eines politisch mutwillig missverstandenen Werks. Bei seiner geplanten Erstaufführung 1922 löste er in Deutschland erhebliche Kontroversen aus; angesichts der erstarkenden nationalsozialistischen Bewegung wurde eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung nicht ausgeschlossen. Die vorliegende Fassung wurde vom Filmmuseum München korrigiert, rekonstruiert und nach den Konventionen der Entstehungszeit viragiert. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1922
Produktionsfirma
Filmhaus Bavaria
Regie
Manfred Noa
Buch
Hans Kyser
Kamera
Gustave Preiss · Hans Karl Gottschalk
Darsteller
Werner Krauß (Nathan) · Carl de Vogt (Assad) · Fritz Greiner (Sultan Saladin) · Lia Eibenschütz (Sittah) · Bella Muzsnay (Recha)
Länge
123 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
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Heimkino

Die DVD enthält den Film mit optionaler Musikbegleitung von Aljoscha Zimmermann, aufgeführt von Sabrina Hausmann (Violine) und Mark Pogolski (Flügel) sowie einer improvisierten Klavierbegleitung von Joachim Bärenz. Des Weiteren enthält die Bonussektion ein informatives 16-seitiges Booklet, u.a. mit einem Aufsatz von Stefan Drössler (Filmmuseum München) zur Produktions- und Zensurgeschichte des Films.

Verleih DVD
EditionFilmmuseum (FF, DD2.0, ZT dt.)
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Diskussion
Manfred Noas Adaption von Gotthold Ephraim Lessings 1779 erschienenem dramatischen Gedicht „Nathan der Weise“ teilt ein ähnliches Schicksal wie ihre Vorlage: aufklärerische Perspektive, umstritten zur Entstehungszeit. Den dominanten Idealismus, das Plädoyer für Humanität und Pazifismus greift der nach Motiven des Klassikers aufwändig produzierte Großfilm auf und demonstriert im Handeln des weisen Juden Nathan religionsübergreifende Vernunft und Toleranz. Im Gegensatz dazu bleibt die christliche Amtskirche mit ihren Vasallen in weltlichem, imperialistischem Machtstreben und Korruption verstrickt. Der muslimische Repräsentant, Sultan Saladin, wandelt sich durch Nathans selbstloses Eintreten für Wahrheit und Gerechtigkeit durch die Freilassung christlicher Gefangener vom praktizierenden Opportunisten zum Friedensstifter. Produzent und Regisseur von „Nathan der Weise“ – beide waren jüdischen Glaubens – wollten in der schwierigen politischen Anlaufphase der Weimarer Republik mit der Wahl dieses Stoffes sicher ein Zeichen zum friedlichen Miteinander setzen. Die Religionsproblematik, komprimiert dargeboten in der berühmten Ringparabel, hält sich an die Vorlage und zeichnet den Juden Nathan als kooperativ, menschenfreundlich und staatstreu, wenn er dem Sultan sogar sein Geld zur Überwindung finanzieller Engpässe offeriert. Die christlichen Vertreter erscheinen durch die Kreuzzüge sehr zweifelhaft, von weltlichen Zielen besessen sowie wenig friedensbereit. In einer tendenziösen Mittellage befinden sich die Muslime: kampfbereit, aber großzügig gegenüber ihren christlichen Feinden. Nach zwei Vorlagen bei der Filmprüfstelle München wurde Manfred Noas Film im September 1922 wegen zu befürchtender antisemitischer Proteste und Ausschreitungen, die die öffentliche Ordnung gefährden könnten, nicht zur Aufführung freigegeben. Die Premiere konnte erst nach dem positiven Bescheid der Berliner Oberprüfstelle am 29. Dezember 1922 im Kino Alhambra am Kurfürstendamm stattfinden. In München erhielt ein Kinobesitzer Drohungen für den Fall einer Vorführung, was der Direktor der Produktionsfirma direkt mit „Parteiführer Hitler“ klären wollte. Der „Völkische Beobachter“ urteilte am 16. Februar 1923: „Der Film…ist ein einseitiger, geschickt aufgemachter, technisch zweifellos hervorragender, deshalb in seiner Wirkung aber nur noch stärkender Tendenzfilm, darauf berechnet, in München, der Hochburg der antisemitischen Bewegung, der Bevölkerung unter großer Verdrehung der Tatsachen die Meinung aufzuzwingen, das Judentum sei weit besser und menschlicher als der Islam und das Christentum, und der Kampf gegen das Judentum die unglaublichste Ungerechtigkeit der Weltgeschichte.“ Auch in Warschau verbot die Zensur „Nathan der Weise“, weil er die „humanitäre Rolle des Judentums“ darstelle. In Österreich erhielt der Film „Schulverbot“. Nach der Machtergreifung gab es keine Aufführungen mehr, der Regisseur und sein Film versanken in Vergessenheit. Das Filmmuseum München entdeckte 1996 ein schwarz-weißes Duplikatnegativ von einer offenbar kolorierten Nitratkopie unter dem Titel „Die Erstürmung Jerusalems“ im Moskauer Filmarchiv Gosfilmfond. Der Film ist – bis auf die fehlenden originalen Haupttitel – vollständig erhalten geblieben. Die Qualität des Bildes ist gut, kann die Mängel des Ausgangsmaterials aber nicht komplett kaschieren. Das zweisprachige, 16seitige Booklet mit einem Aufsatz von Stefan Drössler zur Produktions- und Zensurgeschichte des Films liest sich mit Gewinn. Für die DVD-Edition wurden die Einfärbungen des Films, orientiert an zeitgenössischen Vorbildern, wiederhergestellt. Die brillant durchgeführten Viragen sind vorherrschend orange-gelb und braun, aber auch weiß und rot in den Innenszenen. Ganz ausgezeichnet wirken die Blautöne bei den Außenaufnahmen; etwa wenn Nathan drei Tage und Nächte mit sich und Gott hadert oder die Kreuzritter sich am Ende zur Eroberung Jerusalems formieren. Die Musik von Aljoscha Zimmermann setzt gefühlvoll auf den inneren Spannungsbogen der Bilder und akzentuiert den Rhythmus, den Stimmungswechseln adäquat angepasst, ohne die Handlung vorlaut zu interpretieren – oder selbst unterzutauchen. Diese traditionelle Anlage verzichtet auf modernistisches Eigenleben und gefällt durch schöne Leitmotive für die Figuren und Handlungsstränge. Auch die gut geführten Schauspieler überzeugen, fallen selten durch überzogene Gestik oder Mimik auf. Nur Werner Kraussens Nathan gerät am Ende – im Gefängnis und beim Gerichtstag – in Versuchung, das expressionistische Repertoire einzubringen, was aber der historisch-realistischen Grundtendenz des Films nicht entspricht. Auffallend sind die vielen Außenaufnahmen und die wenigen Studioszenen. Lohnend ist ein Vergleich mit zur gleichen Zeit entstandenen Produktionen wie Fritz Langs „Der müde Tod“ und „Dr. Mabuse, der Spieler“ oder F. W. Murnaus „Schloß Vogelöd“ und „Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens“.
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