Das kurze Leben des José Antonio Gutierrez

Dokumentarfilm | Deutschland/Schweiz 2006 | 93 Minuten

Regie: Heidi Specogna

Der Film rekonstruiert das Leben und das Schicksal eines jungen Guatemalteken, der illegal in die USA einreiste und sich als "Green Card Soldier" eine Beschleunigung seiner Anerkennung als amerikanischer Staatsbürger erhoffte. Er starb am 21. März 2003 als erster "amerikanischer" Soldat im Irak-Krieg im Kugelhagel der eigenen Leute. Anhand von Interviews, Dokumenten, Fernseh- und Archivmaterial sowie Fotos zeichnet der beeindruckende Dokumentarfilm diesen Lebensweg nach und verdichtet das Einzelschicksal zur Reflexion über die Situation von Kindern und Jugendlichen in Latein- und Mittelamerika sowie das Los der Armuts-Emigranten in den USA. - Ab 14 möglich.
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Filmdaten

Originaltitel
DAS KURZE LEBEN DES JOSÉ ANTONIO GUTIERREZ
Produktionsland
Deutschland/Schweiz
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Tag-Traum/Specogna Filmprod./PS Film
Regie
Heidi Specogna
Buch
Heidi Specogna
Kamera
Rainer Hoffmann
Musik
Hans Koch
Länge
93 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14 möglich.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Zahllose Holzkreuze, die nebeneinander im Sand der amerikanischen Küste stecken und nur auf die Flut des Vergessens zu warten scheinen: Mit diesem eindringlichen Bild einer improvisierten Gedenkstätte für die gefallenen US-Soldaten im Irak beginnt und endet der Dokumentarfilm über „Das kurze Leben des José Antonio Gutierrez“. Die augenscheinliche Anonymität und Konformität der Opfer verortet die Regisseurin Heidi Specogna jedoch keineswegs nur im Bereich des Todes. Abseits der Kriegsschauplätze, im weltweiten Gefälle zwischen Arm und Reich und der damit verbundenen Immigrationsproblematik, wiederholen sich die Schicksale; die Erwartungen an das gelobte Land Amerika gleichen sich – auch in ihrem Scheitern. José Antonio Gutierrez wuchs in den Straßen von Guatemala City auf. Nach dem Tod seiner Eltern während des von der CIA forcierten Bürgerkriegs landet das aufgeweckte Straßenkind im Waisenhaus, wo er vom Beruf des Architekten zu träumen beginnt. Als der smarte Junge mit zunehmendem Alter die begrenzten Perspektiven in Guatemala erkennt, begibt er sich auf die gefährliche Reise Richtung Amerika. Nach mehreren Versuchen gelingt ihm die illegale Einwanderung, und er kann als vermeintlich Minderjähriger sogar einen Anspruch auf finanzielle Förderung für Schule und Ausbildung geltend machen. Später, nach dem Versiegen dieser Quelle, bewirbt er sich wie viele andere lateinamerikanische Einwanderer als „Green Card Soldier“ bei den Marines. Am 21. März 2003 stirbt José Antonio Gutierrez als erster Soldat unter amerikanischer Flagge durch „friendly fire“ im Irak-Krieg. „In einem Krieg geboren, im anderen gestorben.“ Gutierrez’ Schicksal, dem die amerikanische Staatsbürgerschaft posthum verliehen wurde, steht für Specogna symptomatisch für die Lebenswirklichkeit von Millionen Flüchtlingen, die sich in Amerika eine gesicherte Zukunft erhoffen. Dass dieses Verlangen nach einem besseren Leben auch vor der Gefahr des Todes nicht kapituliert, nutzte die amerikanische Administration gewissenlos für ihre Zwecke: Im Jahre 2000 beschloss die Regierung, die Anerkennung der Staatsbürgerschaft für „Green Card-Soldiers“ zu beschleunigen. Infolgedessen kämpfen bis heute über 40.000 Soldaten in einem Krieg, der nicht der Ihrige ist. Specogna bedient sich bei der Dokumentation von Gutierrez’ Lebensgeschichte unterschiedlicher Berichtsformen. Abwechslungsreich alternieren Interviews des Heimleiters, seiner Schwester und Militärkameraden mit Ausschnitten aus Fernsehnachrichten, Dokumenten und arrangierten Schwarz-weiß-Fotografien. Eindrucksvoll sind die Filmaufnahmen der aktuellen Situation guatemaltekischer Straßenkinder und lateinamerikanischer Emigranten, die auf den Dächern von Güterwagons Mexiko durchqueren. Mit diesen Einschüben gelingt es Specogna nicht nur, José Antonio Gutierrez’ Reise nachzuzeichnen, sondern sein Schicksal in den Zusammenhang von Globalisierung und nationaler Interessenspolitik zu stellen. Während ihrer Recherche der lebensgefährlichen Strapazen, denen sich die blinden Passagiere aussetzen, stößt sie unter anderem auf eine Herberge für Zugopfer. Die Mischung aus Gottvertrauen und lebensbejahender Hoffnung, die die Kamera dort während einer Weihnachtsfeier einfängt, verblüfft angesichts der verzweifelten Lage, in der sich die körperlich schwer behinderten Menschen befinden, die schon vor ihrem Unfall außer ihrer Arbeitskraft nichts mehr zu verlieren hatten. Kontrastiert werden diese Aufnahmen durch den Bericht eines Marines, der Gutierrez während seiner letzten Minuten zur Seite gestellt wurde. Traumatisiert schildert der Soldat den Einbruch der Kriegsrealität, die mit einer inszenierten „4th of July“-Show“ nichts mehr gemein hat. In der letzten Einstellung ist eines der weißen Holzkreuze mit Gutierrez’ Foto und seinen Lebensdaten versehen. Specognas brisanter Dokumentation gelingt der Spagat, „José Antonio Gutierrez de Guatemala 1974–2003“ einerseits ein individuelles Gesicht zu verleihen, das andererseits zugleich mit den tragischen Schicksalen verbunden ist, die sich tagtäglich tausendfach wiederholen.
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