Filmemacher wie Mehdi Charef, Spike Lee, Ridley Scott und John Woo inszenieren in sieben Episoden Kinderschicksale: Vom afrikanischen Kindersoldaten bis zum chinesischen Straßenmädchen werden unterschiedliche Nöte von Kindern aus aller Welt sichtbar. Stil und Qualität sind von Episode zu Episode unterschiedlich, insgesamt aber überzeugen alle Filme erzählerisch und visuell wie durch die Darstellung der Kinder nicht nur als Mitleidsobjekte, sondern als starke Charaktere. (Titel der einzelnen Filme: 1. "Tanza", 2. "Blue Gipsy"; 3. "Jesus Children of America", 4. "Bilu e Joao", 5. "Jonathan", 6. "Ciro", 7. "Song Song & Little Cat".)
- Sehenswert ab 8.
Alle Kinder dieser Welt
- | Italien/Frankreich 2005 | 130 (DVD 124) Minuten
Regie: Mehdi Charef
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Filmdaten
- Originaltitel
- ALL THE INVISIBLE CHILDREN
- Produktionsland
- Italien/Frankreich
- Produktionsjahr
- 2005
- Produktionsfirma
- MK 2/Rai Cinemafiction
- Regie
- Mehdi Charef · Emir Kusturica · Spike Lee · Kátia Lund · Jordan Scott
- Buch
- Mehdi Charef · Stribor Kusturica · Cinqué Lee · Joie Lee · Kátia Lund
- Kamera
- Philippe Brelot · Milorad Glusica · Cliff Charles · Toca Seabra · James Whitaker
- Musik
- Rokia Trobe · Stribor Kusturica · Zoran Marijanovic · Dejan Sparavalo · Nenad Jankovic
- Schnitt
- Yannick Kergoat · Svetolik Mica Zajc · Barry Alexander Brown · Estevan Santos · Dayn Williams
- Darsteller
- Adam Bila (Tanza) · Elysée Rouamba (Kali) · Rodrigue Ouattara (Chief) · Uros Milovanovic (Uros) · Dragan Zurovac (Gefängnisdirektor)
- Länge
- 130 (DVD 124) Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 8.
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Kinder sind nicht auf Augenhöhe mit den Erwachsenen; sie können leicht übersehen oder willentlich ignoriert werden. Wie z.B. Little Cat, die als Straßenmädchen in einer chinesischen Großstadt versucht, Blumen an Passanten zu verkaufen. Ihre zierliche Gestalt und ihre dünne Stimme können sich kaum gegen die Mauer aus Hast und Gleichgültigkeit, mit der ihr die meisten begegnen, durchsetzen. Das Mädchen ist eine der Hauptfiguren in John Woos „Song Song & Little Cat“, einer von sieben Episoden, die in „Alle Kinder dieser Welt“ vereint sind. „All the Invisible Children“ ist der Originaltitel des Projekts, das im Auftrag von UNICEF und dem World Food Programme ausgearbeitet wurde. Es soll Kinder wie Little Cat sichtbar machen – und dafür wurden neben John Woo weitere namhafte Filmemacher gewonnen. Wie meistens bei solchen Episodenfilmen ist das Ergebnis gemischt. Woos Beitrag, mit dem der Film schließt, ist ein sehr poetischer Blick auf das Leben zweier unterschiedlicher Mädchen, vom Straßenkind Little Cat und Song Song, einem „armen reichen Mädchen“ das emotional aushungert, weil seine Eltern nur mit sich selbst und ihren (Ehe-)Problemen befasst sind. Woo versucht nicht, einen realistischen Blick auf das Leben der Kinder zu werfen, sondern macht sich deren „naiven“ Blick zu eigen. So sind die Erwachsenen um Little Cat eher Märchenfiguren als Charaktere – ganz gut oder ganz böse. Song Songs Eltern werden kaum sichtbar – als Visualisierung ihrer Abwesenheit, unter der das Kind leidet; eine große Porzellanpuppe wird dagegen fast zur dritten Protagonistin, die die beiden unterschiedlichen Mädchen verbindet.
Mehdi Charef, dessen Episode den Auftakt bildet, mag man wie Woo vorwerfen, in zu glatten Bildern vom Leid seines kleinen Protagonisten – eines Kindersoldaten aus Burkina Faso – zu erzählen. Jedoch macht die Glätte durchaus Sinn: die Schönheit der Natur, die die Kamera in „Tanka“ liebevoll festhält, lässt die Gewalt, in die der junge Tanka verwickelt wird, umso sinnloser und erschreckender wirken. Besonderes dramaturgisches Geschick beweist die Brasilianerin Kátia Lund: Sie erzählt von zwei Straßenkindern in Sao Paulo, die sich durchschlagen, indem sie Wertstoff-Müll sammeln und diesen an eine Deponie verkaufen. Bevor deren Tore sich vorm Wochenende schließen, müssen die Geschwister einen Wettlauf mit der Zeit gewinnen und ihre kostbare Beute rechtzeitig abliefern. Trotz der bitteren Armut der Kinder wurde daraus ein fast fröhlicher Film, eine Hommage an die Vitalität, den Witz und den Zusammenhalt der Protagonisten. „Ciro“ von Stefano Veneruso handelt von einem Jungen in Neapel, der seinem elenden Zuhause so gut es geht zu entkommen versucht – indem er sich mit anderen Jungs als Dieb betätigt oder aber sich doch noch Reste von Kindlichkeit erlaubt: wenn er zu Beginn mit den Händen ein kleines Schattentheater an den sonnenhellen Wänden seines Wohnblocks veranstaltet. Insgesamt ergibt sich ein vielfältiges Panorama unterschiedlicher Lebenssituationen: Spike Lee erzählt von der New Yorker Teenager-Tochter zweier Junkies, die von diesen eine HIV-Infektion geerbt hat. In „Blue Gipsy“, einer Episode um einen serbischen Jungen, der gerade erst aus dem Jugendknast kommt und gleich wieder von seinem Säufer-Vater auf Diebeszug geschickt wird, zitiert Emir Kusturica einmal mehr sich selbst und seinen Grotesk-Folk-Stil. Angesichts des kurzen Formats hätte es der Episode besser getan, sich mehr auf den kleinen Protagonisten zu konzentrieren.
Interessanter ist „Jonathan“ von Ridley Scott und seiner Tochter Jordan, ein zunächst verworrener, visuell aber sehr suggestiver Film. Die beiden haben als einzige keinen Jugendlichen als Hauptfigur ausgesucht, sondern einen Kriegsberichterstatter. Jonathan ist vom Leid der Kinder, das er bei seiner Arbeit beobachtet, tief traumatisiert. In einer surrealen (Traum-)Sequenz mischen sich Kindheitserinnerungen mit den Schreckensbildern: Er macht sich auf in den nahe gelegenen Wald und kehrt dabei in die eigene Kindheit zurück, streift mit zwei Freunden spielend umher, bis sie in ein Kriegsgebiet gelangen. Dort treffen sie auf andere Kinder, die sich in einem Lastwagen-Wrack eingerichtet haben. Scott reflektiert indirekt die Arbeitsaufgabe, die ihm und seinen Kollegen für „Alle Kinder dieser Welt“ gestellt wurde – und gesteht mit der Figur des Jonathan das Grauen ein, die Hilflosigkeit und auch die Scham, die der Blick auf die oft desaströsen Lebensumstände von Kindern evoziert. Hoffnung findet Jonathan, als er die Kinder im Traum wieder „auf Augenhöhe“ wahrnimmt – sie nicht mehr nur als Mitleidsobjekte sieht, sondern ihren Mut fühlt, ihren Überlebenswillen, ihre Anpassungsfähigkeit und vor allem die Kraft ihrer Freundschaft. So sehr sich Scotts Beitrag stilistisch von den übrigen unterscheidet, ähnelt er ihnen doch insofern, als dass auch hier positive Akzente nicht durch das Handeln Erwachsener gesetzt werden, sondern durch die Darstellung kindlicher Stärke. Das sorgt dafür, dass „Alle Kinder dieser Welt“ trotz seiner Konzentration auf Krisen und Elendssituationen kein deprimierender Film ist. Das Zeugnis, das die Filmemacher damit den Erwachsenen und Verantwortungsträgern ausstellen, könnte indes kaum deprimierender sein.
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