Zwei südkoreanische Teenager bessern ihr Taschengeld durch Prostitution auf, um nach Europa reisen zu können. Als die eine bei einem Fenstersturz ums Leben kommt, entschließt sich die andere für eine eigenwillige Form der Sühne: Sie schläft mit den Kunden ihrer Freundin und stattet den einst gezahlten Preis zurück. Doch ihr Vater kommt hinter das Geheimnis seiner Tochter und setzt zu einem mörderischen Rachefeldzug an. Intensive, filmisch raffiniert verwobene Studie über die moralische Entfremdung zwischen den Generationen. Knappe Erzählformen, originelle Bildeinfälle sowie eine komplex strukturierte Geschichte verdichten sich zu einem ebenso zeitgemäßen wie universellen Drama um Schuld und Sühne. (O.m.d.U., Kinotipp der katholischen Filmkritik)
- Sehenswert ab 16.
Samaria
Drama | Südkorea 2004 | 96 Minuten
Regie: Ki-duk Kim
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Filmdaten
- Originaltitel
- SAMARIA
- Produktionsland
- Südkorea
- Produktionsjahr
- 2004
- Produktionsfirma
- Cineclick Asia/Kim-Ki-Duk Films
- Regie
- Ki-duk Kim
- Buch
- Ki-duk Kim
- Kamera
- Sun Sang-jae
- Musik
- Park Ji
- Schnitt
- Ki-duk Kim
- Darsteller
- Lee Uhl (Young-Gi) · Kwak Ji-min (Yeo-Jin) · Seo Min-jung (Jae-Young) · Kwon Hyun-min (Verkäufer) · Oh Young (Musiker)
- Länge
- 96 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 16; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Seoul erscheint in diesem Film als einzige Anhäufung zersiedelter Vorstädte, zerschnitten von Ausfallstraßen, durchsetzt von Garküchen, Parkplätzen und billigen Hotels. In diesen Absteigen trifft sich die Schülerin Jae-young regelmäßig mit wesentlich älteren Männern, während ihre Freundin Yeo-jin draußen nach der Sittenpolizei Ausschau hält und via Mobiltelefon neue Freier akquiriert. Die beiden Mädchen sparen auf Flugtickets nach Europa. Noch zehn Kunden müssen abgearbeitet werden, um den Traum von Neuschwanstein Wirklichkeit werden zu lassen. Die ewig lächelnde Jae-young kann ihrem Tun nichts Schändliches abgewinnen, sie verkauft ihren Körper aus Passion, verliebt sich sogar in einen ihrer Klienten. Als Yeo-jin einmal nicht rechtzeitig vor dem Eintreffen einer Streife warnen kann, flieht die halbnackte Freundin aufs Fensterbrett, springt dann, noch immer lächelnd, in die Tiefe. Sie lächelt selbst noch auf dem Totenbett. Schuldbeladen bleibt Yeo-jin zurück, will in einem ersten Impuls das verdiente Geld verbrennen. Besinnt sich dann eines Besseren, wird zum „Samariter-Mädchen“: Sie macht nun ihrerseits Termine mit allen Kunden ihrer verstorbenen Freundin, schläft mit ihnen und gibt ihnen überdies das einst gezahlte Geld zurück. Auf diese Weise will sie die eigene Verstrickung sühnen, will das Geschehen quasi moralisch zurückspulen und damit ungeschehen machen. Sie hat diese Rechnung allerdings ohne ihren verwitweten Vater gemacht. Der im Morddezernat beschäftigte Polizist kommt der Freizeitbeschäftigung seiner abgöttisch geliebten Tochter zufällig auf die Spur. Für ihn bricht damit die letzte Illusion einer wenigstens rudimentär noch heilen Welt zusammen. Er holt zum Gegenschlag aus.
Obwohl „Samaria“ sicher nicht der beste Film des als Superstar gefeierten koreanischen Regisseurs Kim Ki-duk ist, lassen sich an ihm sehr schön die Vorzüge des aktuellen fernöstlichen Kinos verifizieren: expositionelle Verkürzung, polyphone Erzählperspektiven, die stets überraschende, dabei ambivalent codierte Bildgestaltung sowie eine komplex strukturierte Geschichte, die es schafft, universelle Themen wie die von Schuld und Sühne auf neue und ungewohnte Weise zu dramatisieren. Wenn der Vater an das Bett seiner unschuldig schlafenden, an ein übergroßes Plüschtier geschmiegten Tochter tritt, wissen wir als Zuschauer längst, dass es mit dieser Unschuld nicht mehr weit her ist. Um sie zu wecken, setzt er ihr vorsichtig Kopfhörer mit den betörenden Harmonien Eric Saties auf, bereitet dann ein aufwändiges Frühstück. Nebenbei wird seine Arbeit bei der Polizei erwähnt – dass er in genau jenem Milieu ermittelt, in dem sich seine Tochter und ihre Freundin gerade bewegen, erfährt man wenig später, nicht aber die betreffenden Mädchen. Seine Wandlung vom Gesetzeshüter zum -brecher vollzieht sich parallel zu den Versuchen seiner Tochter, mittels Beischlaf die Mitschuld am Tod der Freundin abzuarbeiten.
Zwei Haltungen kehren sich um, lösen aber genau dadurch das jeweilige Gegenteil aus. Während das erste Kapitel „Vasumitra“ die kleinkapitalistischen Unternehmungen der Freundinnen beschreibt und deren Einmündung in die Katastrophe, schwenkt „Samaria“ als zweites Kapitel auf den Schock des Vaters und seine Versuche, mittels Vergeltung seine Vorstellung von Rechtschaffenheit wieder ins rechte Licht zu rücken. Diese beiden diametralen Bewegungen überschneiden sich dann im Schlusskapitel „Sonata“. Vater und Tochter machen sich gemeinsam auf zum Totenschrein der Gattin/Mutter, weit außerhalb des Molochs Seoul. Die märchenhaft anmutende, nebeldurchwaberte Landschaft schafft es, das zwischen den Generationen angelagerte Gift zu neutralisieren. Schon auf das Schlimmste hinauslaufend – die Ermordung der Tochter durch den Vater –, schafft es „Samaria“ in den letzten Minuten tatsächlich noch, zwar kein Happy End im klassischen Sinne, aber doch einen weit weniger negativen Schluss als erwartet stattfinden zu lassen.
Kim Ki-duk wuchs in der christlich geprägten Familie eines koreanischen Kriegsveteranen auf. Körperliche Züchtigung durch den Vater gehörte für ihn laut eigener Aussage zum Alltag. „Schuld fasziniert mich, denn sie prägt alle Religionen“, führte er einmal aus. Vermutlich sind in die Figur des gern über Marienerscheinungen und andere christliche Wunder monologisierenden Vaters in „Samaria“ autobiografische Erfahrungen eingeflossen. Jemand ersehnt das Gute und Wunderbare, verfällt aber gerade dadurch objektiv dem Bösen. Kim Ki-duks Filme können auch als moralische Kompensationsversuche gelesen werden. Wie in den Arbeiten seines Landsmannes Park Chan-wook („Oldboy“, fd 36 666) liegen Grausamkeit und Schönheit auf fast beängstigende Weise dicht beieinander. In der vielleicht beklemmendsten Szene des Films baut sich der amoklaufende Kommissar inmitten des kleinbürgerlichen Wohnzimmers eines der Männer auf, die mit seiner Tochter geschlafen haben. Die Familie des Mannes – Mutter, Frau, zwei Kinder – sitzt gerade beim Abendbrot. Der vergeltungswütige Polizist ohrfeigt das Familienoberhaupt mehrfach. Wenig später springt der gedemütigte Mann vom Balkon seiner vermutlich noch lang nicht abgezahlten Eigentumswohnung. Man erlebt diesen Tod als dumpfen Aufprall, als eine ins Bild springende Armbanduhr und einen zähflüssigen Blutstrom, der sich seinen Weg zwischen den Fugen von Formsteinen sucht. Der wirkliche Horror vollzieht sich im Off – und damit in der Fantasie des Zuschauers. Hier ist ein Wegsehen nicht mehr möglich.
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