Ein junger Mann lebt in einer kleinen Einkaufspassage in Buenos Aires, in der Einwanderer verschiedenster Nationalitäten ihren Geschäften nachgehen. Seine jüdische Familie stammt aus Polen und floh vor der Nazi-Besatzung nach Südamerika. Der Vater hat die Familie längst verlassen, was ihm der Sohn nie verziehen hat; als sich ein Besuch des Verschwundenen ankündigt, gerät seine Welt aus den Fugen. Der liebevolle Blick auf eine bunt zusammengewürfelte Gemeinschaft verdichtet sich zum anrührenden Porträt eines Menschen, der innerhalb seiner Familie und seiner Kultur nach einem Standpunkt und Identität sucht.
- Sehenswert ab 14.
El Abrazo Partido
Drama | Argentinien/Spanien/Frankreich/Italien 2004 | 100 Minuten
Regie: Daniel Burman
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Filmdaten
- Originaltitel
- EL ABRAZO PARTIDO
- Produktionsland
- Argentinien/Spanien/Frankreich/Italien
- Produktionsjahr
- 2004
- Produktionsfirma
- BD Cine/Wanda Vision/Paradis Film/Classic
- Regie
- Daniel Burman
- Buch
- Daniel Burman · Marcelo Birmajer
- Kamera
- Ramiro Civita
- Musik
- César Lerner
- Schnitt
- Alejandro Brodersohn
- Darsteller
- Daniel Hendler (Ariel) · Adriana Aizemberg (Sonja, Ariels Mutter) · Jorge d'Elia (Elias, Ariels Vater) · Sergio Boris (Joseph, Ariels Bruder) · Rosita Londner (Ariels Großmutter)
- Länge
- 100 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Eine enge Welt, die hauptsächlich aus dem schattigen Innern kleiner Läden und belebten Straßenzügen besteht, und ein junger Mann, der diese Enge unruhig durchstreift und immer wieder mit ihren liebenswerten kleinbürgerlichen Bewohnern zusammentrifft: Aus diesen unspektakulären Zutaten entwickelt der junge Argentinier Daniel Burman ein fein nuanciertes Porträt, mit dem er über Identität und Zukunftsperspektiven einer Generation meditiert, die als Nachgeborene von Immigranten in Argentinien nach ihrem eigenen Lebensweg suchen – in einem sozialen Umfeld, das durchaus Nestwärme bietet, aber wenig Rückhalt für große Träume. Hauptfigur ist Ariel, dessen jüdische Familie (wie die des Filmemachers) aus Polen stammt und einst aufgrund der Nazi-Besatzung nach Buenos Aires auswanderte. Ariel lebt in einem von Immigranten bevölkerten jüdischen Viertel und betreibt mit seiner Mutter ein Geschäft für Damenunterwäsche. Sein Kosmos ist die Welt kleiner Läden: Da sind zwei alte Cousins, die mit Stoffen handeln und sich auf ihrem Ladenschild als „Gebrüder“ ausgeben; da sind die zurückhaltende koreanische Familie, die Feng-Shui-Produkte vertreibt, das Internet-Café der hübschen Rita, mit der Ariel ab und an in der Umkleidekabine seines Ladens verschwindet, und das kleine Schreibwarengeschäft gegenüber, dessen Besitzer darüber nachdenkt, den unrentablen Laden zu verkaufen. Wichtig für Ariel sind nicht zuletzt sein Bruder Joseph, der sich in dubiosen Import-Emport-Geschäften betätigt, assistiert von einem schweigsamen Koreaner, und sein Freund Mitelmann, der sich mit nicht weniger zweifelhaften Finanztransaktionen über Wasser hält. Einer der Höhepunkte in dieser bunten Nachbarschaft ist ein Wettrennen, das zwischen Josephs Koreaner und dem Läufer eines anderen Händlers ausgetragen werden soll, um auf diese Weise geschäftliche Differenzen zu entscheiden.
Sowieso scheint das (Weg-)Rennen eine beliebte Methode zu sein, um Problemen aus dem Weg zu gehen: Als Ariel noch ein Baby war, verließ sein Vater die Familie, um im Sechs-Tage-Krieg auf der Seite Israels zu kämpfen, und kehrte nie mehr zurück. Seine Mutter wiederum läuft – im bildlichen Sinne – vor der Wahrheit davon, welchen Anteil sie an diesem Verschwinden gehabt hat, indem sie ihrem Sohn die genaueren Umstände verschweigt. So schleppt Ariel den „Verrat“ des Vaters als Wunde mit sich – und schwankt zwischen der Wut auf den Verschwundenen und dem Wunsch, es ihm gleich zu tun: Er möchte die Herkunft seiner Familie nutzen, um einen polnischen Pass zu bekommen und sich damit den Weg nach Europa zu öffnen, den Weg in eine diffus verheißungsvolle Zukunft. Diesen Plan betreibt er, ohne dabei übermäßige Energie an den Tag zu legen, indem er sich von seiner Großmutter die nötigen Papiere besorgt – und ist auch nicht allzu getroffen, als das Vorhaben erst einmal nicht aufgeht. Offensichtlich fühlt sich der junge Mann seiner Umgebung, wo jeder jeden kennt und statt geschäftlicher Konkurrenz ein gemütliches Miteinander herrscht, trotz seiner inneren Unruhe verbunden. Als sich ein Besuch des Vaters ankündigt, gerät Ariels Welt durcheinander, und einmal mehr weiß er nicht, was er tun soll: endlich die Fragen stellen, die ihm unter den Nägeln brennen, oder doch lieber weglaufen? Zunächst entscheidet er sich für letzteres, dann aber erfährt er Dinge aus seiner Familiengeschichte, die sein Bild des Vaters verändern.
Burmans Film erzählt von einer schwierigen Suche nach dem Platz im Leben: innerhalb eines Landes und einer Kultur, einer Nachbarschaft, einer Familie. Die Kamera, die sich beweglich an die Fersen der Figuren heftet, reflektiert diese Suche und die innere Unruhe Ariels auf suggestive Weise. Patentlösungen, wie man zu sich selbst und zu einem glücklichen Leben finden kann, bietet der Film seinem Protagonisten nicht: Weglaufen mag gut, sogar lebensnotwendig sein, wie die Emigration der jüdischen Großeltern nach Lateinamerika; aber der Aufbruch in eine neue Welt bietet nicht nur neue Perspektiven, sondern verlangt auch Opfer, und der Erinnerung, der eigenen Vergangenheit, kann man letztlich nicht davonlaufen – man kann sich nur befreien, wenn man sich mit ihr aussöhnt. Ariel lernt das allmählich, während er mit dem Gewirr aus Selbsttäuschung und Verdrängung konfrontiert wird, in das die älteren Protagonisten verstrickt sind. Er begreift, dass er sich, bevor er sich eine Zukunft aufbauen kann, mit dem Vater auseinandersetzen muss. Denn wirklich frei sein kann man nur, so die Botschaft, wenn man so etwas wie Heimat hat – und wenn es nur eine innere Heimat ist wie jene, die im Schlussbild Ariels Großmutter im Singen eines jiddischen Liedes heraufbeschwört.
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