Gegen die Wand
Drama | Deutschland 2004 | 121 Minuten
Regie: Fatih Akin
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2004
- Produktionsfirma
- Wüste Filmproduktion
- Regie
- Fatih Akin
- Buch
- Fatih Akin
- Kamera
- Rainer Klausmann
- Musik
- Alexander Hacke · Maceo Parker
- Schnitt
- Andrew Bird
- Darsteller
- Birol Ünel (Cahit) · Sibel Kekilli (Sibel) · Catrin Striebeck (Maren) · Güven Kiraç (Seref) · Metlem Cumbul (Selma)
- Länge
- 121 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama | Tragikomödie
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Heimkino
Wie ernst sie es damit meint, wird Cahit klar, als sie seine Ablehnung mit einem neuen Selbstmordversuch quittiert. Dabei spritzt das Blut im hohen Bogen, wenn Sibel sich einen scharfgratigen Flaschenhals in den Arm rammt. Solche Schockelemente passen durchaus zur emotionalen Wucht, mit der Fatih Akin fast atemlos und wie unter Strom die Handlung vorwärtstreibt. Dieser Regisseur will erzählen, will viel und satt erzählen, weshalb die Dialoge der nächsten Szene oft schon anklingen, bevor der Schnitt erfolgt. Das verleiht dem Film ein dynamisches Element, ohne dass er hektisch würde, weil die Figuren eher einsilbige Gestalten sind, deren pointierte Kurzsätze im knappen Hamburger Szene- Idiom trockenen Humor verraten, und die Tragikomödie überraschend viele stille, lang ausgehaltene Momente kennt. Denn um eine solche handelt es sich zumindest in der ersten Hälfte, in der Cahit sich schließlich doch auf die Hochzeit einlässt, wofür er mit seinem versifften Äußeren auch manche unfeine Umgangsform wenigtens vorübergehend ablegen muss. Und obwohl die erste Nacht damit endet, dass er seine Ehefrau vor die Tür setzt, entwickelt sich die Zweck-WG durchaus positiv: Der Müll verschwindet, Farbe, neue Möbel und ein Anflug von Wohnlichkeit kehren ein, das Agreement scheint zu funktionieren. Doch nach einiger Zeit reagiert Cahit zunehmend unwirscher auf Sibels sexuelle Abenteuer, aber auch Sibel spürt eine wachsende Nähe zu ihm. Für diese unausgesprochene Annäherung findet die Inszenierung zwei bezeichnende Szenen: Cahit zerdrückt im Anflug von Glück mit bloßen Händen zwei Biergläser und tanzt sich mit blutüberströmten Armen in Trance, während Sibel zeitgleich zu Reggae-Klängen in einem Kirmes-Karussel selbstvergessen und glücklich vor sich hinträumt.
Umso heftiger dann der Absturz: Cahit erschlägt im Affekt einen von Sibels Liebhabern, die sich daraufhin erneut die Adern öffnet. Doch damit ist Akin nach eineinhalb Stunden glücklicherweise nicht am Ende, sondern erst in der Mitte des Films angelangt. Was er bis dahin an scheinbaren Klischees und Überzeichungen aufeinander häufte, wird im zweiten Teil geduldig wieder abgetragen, weil sich nun die Perspektive verkehrt: Sibel „wiederholt“ Cahits innere Verlorenheit, der über den Tod seiner ersten Frau offensichtlich nie hinweg gekommen ist, und macht sie dadurch in gewisser Weise nachvollziehbar. Die überschäumende, ungezügelte Energie und Wut, akustisch häufig durch Punk-Musik akzentuiert, kippt jetzt in düstere Melancholie und Depression, so als wollten der Film und seine Figuren Buße für alle Irrwege tun. Während Cahit in Hamburg seine Strafe absitzt, verliert sich Sibel in Istanbul in Einsamkeit und Drogen, bis sie eines Nachts vergewaltigt und so brutal zusammen geschlagen wird, dass sie blutüberströmt am Straßenrand liegen bleibt. Doch auch dies ist nicht das Ende dieses seltsamen Films, der eine weitere Zäsur wagt und seine Protagonisten Jahre später wieder zusammen führt. Sibel hat inzwischen eine Tochter und lebt mit einem Mann; Cahit ist auf dem Weg in seine Heimatstadt Mersin, wohin er Sibel gerne mitnehmen würde. Hier erst, in zwei langen Tagen und Nächten in einem Hotelzimmer, kommt „Gegen die Wand“ ans Ziel; der Fluss der Bilder wird ruhiger, das Reden leiser, das Nachdenken existenzieller. Für die von Birol Ünel und Sibel Kekilli so wunderbar und differenziert gespielten Figuren geht es um eine Entscheidung, für den Film um seinen inneren Kern, weil er beide als gereifte Persönlichkeiten porträtiert, die in ihrer Begegnung und an ihrem Schicksal gewachsen sind.
Was „Gegen die Wand“ dabei zu einem so erstaunlichen wie erfrischenden Ereignis macht, ist seine Fähigkeit, pures Kino und doch zugleich voller dem Leben und der Realität abgelauschter Details zu sein. Das beginnt bei der Schilderung der unterschiedlichen Milieus, ihrer Regeln und Rituale und endet nicht in den kurzen Schlaglichtern, mit denen Akin unreflektierte Überzeugungen aufspießt, etwa das sexuelle Selbstverständnis der Männer oder die „protestantische“ Arbeitsmoral der aufstrebenden türkischen Wirtschaftsmacht. Die waghalsige Dramaturgie gleicht in ihrem Furor dabei mitunter der wilden Lebenslust ihrer Protagonisten, denen bürgerliches Kalkül so fremd zu sein scheint wie emotionale Absicherungen, weshalb sie sich – wie auch der Film – öfters auf einem Drahtseil wiederfinden. Das deutsche Kino hat in Fatih Akin nicht nur einen Regisseur, der für ein breiteres Publikum Brücken in die Lebensrealität der zweiten und dritten deutsch-türkischen Generation schlägt, sondern vor allem auch wieder einen Filmemacher, dessen umtriebiger Genius sich zumindest teilweise aus vitalen Antrieben speist.