Seit Otar fort ist...
Drama | Frankreich/Belgien 2003 | 103 Minuten
Regie: Julie Bertucelli
Filmdaten
- Originaltitel
- DEPUIS QU'OTAR EST PARTI...
- Produktionsland
- Frankreich/Belgien
- Produktionsjahr
- 2003
- Produktionsfirma
- Entre Chien et Loup/Le Studio Canal +/Les Films du Poisson/Studio 99/arte France Cinéma
- Regie
- Julie Bertucelli
- Buch
- Julie Bertucelli · Bernard Renucci
- Kamera
- Christophe Pollock
- Musik
- Antoine Duhamel · Dato Evgenidze · Arvo Pärt
- Schnitt
- Emmanuelle Castro
- Darsteller
- Esther Gorintin (Eka) · Nino Khomasuridze (Marina) · Dinara Drukarowa (Ada) · Temur Kalandadze (Tengis) · Roussoudan Bolkwadse (Roussiko)
- Länge
- 103 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Drei Frauen und ein Abwesender, drei Frauen, die für einen Toten leben. Otar ist nicht der einzige Mann, der weggegangen ist. Adas Vater wird als der große Unbekannte geschildert, der in Afghanistan ums Leben kam. Wie Tschechows „Drei Schwestern“ leben die Frauen von der hoffnungsspendenden Kraft der Sehnsucht. Immer wieder liest Ada der Großmutter französische Literatur vor und massiert ihr dabei zärtlich die Füße. Es sind stille Szenen wie diese, die dem sonst düsteren Film atmosphärisch dichte Momente verleihen, voller physischer und seelischer Komplizenschaft.
Julie Bertuccelli, 1968 geboren, drehte zahlreiche Dokumentarfilme und war Regieassistentin bei Altmeistern wie Otar Iosseliani, Bertrand Tavernier oder Krzysztof Kieslowski. Und so ist es auch die Mischung aus Fiktion und Realität, die den Zauber dieses kleinen großen Debüts ausmacht. Ihr Film ist von einer dokumentarischen Ästhetik und nicht zuletzt der Schäbigkeit seiner Originalschauplätze geprägt. Er ist eine komplexe Studie über drei Frauengenerationen, die gezwungen sind, unter einem Dach zu leben. Dass sie sich lieben, ist gewiss, und dennoch ist ihr Verhältnis durch Langeweile, emotionale Klaustrophobie und Hoffnungslosigkeit gestört. Eines Tages, während sich Eka in ihrem Landhaus ausruht, kommt die Nachricht, dass Otar bei der Arbeit auf dem Bau verunglückt ist. Marina bringt es nicht übers Herz, ihr die Wahrheit zu sagen. Wie in „Good Bye, Lenin!“ (fd 35 817) die DDR am Leben gehalten wird, so verstricken sich hier auch Marina und Ada aus Liebe in Lügen, um Eka einen Zusammenbruch zu ersparen. Als Zuschauer wähnt man sich fast in einem Thriller, zittert mit Mutter und Tochter, dass die Wahrheit nicht ans Licht kommt. Ada verfasst von nun an Otars Briefe und zeichnet das Bild eines idyllischen Lebens in Paris, das mehr und mehr dem märchenhaften Ort gleicht, den sie aus Romanen kennt. Anstatt Eka zu beruhigen, wecken die rosigen Nachrichten aber erst recht deren Sehnsucht nach dem verlorenen Sohn. Sie verkauft ihre kostbare Sammlung französischer Bücher und besorgt sich drei Flugtickets nach Paris, wo nicht nur das Lügengebäude einstürzt, sondern auch das Wunschbild eines idealen Frankreichs.
So unspektakulär die Handlung, so prägnant entwickelt sich die Tragik der Figuren. Vor allem der sensiblen Darstellung von Esther Gorintin als Eka ist es zu verdanken, dass der Film neben vielen anderen Preisen in diesem Jahr in Frankreich mit dem „César“ für das beste Spielfilmdebüt ausgezeichnet wurde. Gorintin, eine polnisch- jüdische Schauspielerin, kam 1933 nach Frankreich. Mühelos gestaltet sie Eka als eine hartherzige und zugleich sentimentale Frau, die schon mal heimlich raucht oder kindlich vergnügt auf ein Riesenrad steigt. Hinkend und in einer gebeugten Haltung durchschreitet sie die Wohnung und dirigiert den Haushalt nach der Manier eines Generals. Stets nörgelt sie an ihren Mitbewohnerinnen herum, Otar dagegen stilisiert sie zum Heiligen. Wann immer er anruft, verwandelt sie sich in eine fürsorgliche, auf das Wohl ihres Sohnes bedachte Mutter. An zweiter Stelle sorgt sie sich um Ada, der sie ihre Liebe zu Frankreich vererbt hat. Marina spielt auch noch als Erwachsene die Rolle des trotzigen Kindes und ist die einzige, die der Realität Georgiens nicht mit Eskapismus begegnet, sondern sich ihr stellt, auch um den Preis der Verbitterung. So ist es auch Marina, die am meisten leidet, als sich Ada entschließt, ihrer Heimat den Rücken zu kehren und in Paris zu bleiben. „Seit Otar fort ist …“ beeindruckt durch die kluge Balance aus Pathos, subtilem Humor und Realismus. Zugleich ist es ein zärtliches Porträt einer Familie ohne Männer, in der die Frauen auf sich selbst gestellt sind und dank ihrer Solidarität das Leben dennoch meistern können.