Seit Otar fort ist...

Drama | Frankreich/Belgien 2003 | 103 Minuten

Regie: Julie Bertucelli

Eine alte Frau in der georgischen Hauptstadt Tiflis lebt von der verklärten Erinnerung an ihren Sohn, der in Paris sein Glück sucht. Für die Schicksale seiner Frau und ihrer Enkelin, mit denen sie unter einem Dach lebt, bringt sie hingegen nur wenig Interesse auf. Erst eine Reise nach Paris öffnet ihr die Augen für die wahren Verhältnisse. Am Beispiel dreier Frauengenerationen beschreibt das eindringliche Debüt das Leben in der früheren Sowjetrepublik Georgien. Der von sensiblen Darstellerinnen getragene unspektakuläre Film bezieht seine beeindruckende Wirkung aus der klugen Balance aus Pathos, subtilem Humor und Realismus und lässt die Solidarität der Frauen über die Verbitterung siegen. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
DEPUIS QU'OTAR EST PARTI...
Produktionsland
Frankreich/Belgien
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Entre Chien et Loup/Le Studio Canal +/Les Films du Poisson/Studio 99/arte France Cinéma
Regie
Julie Bertucelli
Buch
Julie Bertucelli · Bernard Renucci
Kamera
Christophe Pollock
Musik
Antoine Duhamel · Dato Evgenidze · Arvo Pärt
Schnitt
Emmanuelle Castro
Darsteller
Esther Gorintin (Eka) · Nino Khomasuridze (Marina) · Dinara Drukarowa (Ada) · Temur Kalandadze (Tengis) · Roussoudan Bolkwadse (Roussiko)
Länge
103 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
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Diskussion
Nachts, auf der Couch, spricht Eka mit sich selbst. Und da ist auch noch Otar, ihr Sohn, dem sie immer wieder Fragen nach dem Leben im fernen Frankreich stellt. Obwohl man den titelgebenden Helden nur auf verwackelten Schnappschüssen sehen kann, ist er in den Gedanken der alten Frau allgegenwärtig. Otar, ein Arzt aus der früheren Sowjetrepublik Georgien, verließ die Heimatstadt Tiflis, um in Paris sein Glück zu suchen. Ein schwieriges Unterfangen, denn ohne ein gültiges Visum war für ihn der Weg in die Illegalität vorgezeichnet und der Traum vom sozialen Aufstieg im Westen rasch geplatzt. In der beengten Altbauwohnung hat er Eka, seine Schwester Marina und deren 20-jährige Tochter Ada zurückgelassen. Jede von ihnen repräsentiert eine andere Generation und historische Epoche: die stalinistische Periode, die verlorene Generation der Gegenwart und die der postsowjetischen Zukunft. Ob beim Duschen das Wasser ausbleibt oder jede halbe Stunde der Strom ausfällt: das Frauentrio erträgt die täglichen Versorgungsengpässe scheinbar stoisch, doch unter der Oberfläche brodelt es gewaltig. Jede von ihnen wählt einen anderen Weg, um die Misere hinter sich zu lassen: Eka besteht darauf, Französisch zu sprechen, als könnte sie damit in eine Parallelwelt der Bildung und Kultur entkommen. Wenn die Unzufriedenheit überhand nimmt, versteigt sie sich manchmal dazu, von den guten alten Zeiten zu schwärmen, als Stalin noch für Ordnung sorgte. Marina, ausgebildete Ingenieurin, verkauft Trödel auf dem Flohmarkt. Sie versteckt ihren Lebensüberdruss hinter Zynismus und lässt sich von ihrem Geliebten aushalten, weigert sich aber, zu ihm zu ziehen. Ada konzentriert ihre Kräfte aufs Studium in der Hoffnung, mit einem akademischen Abschluss der ersehnten Unabhängigkeit näher zu kommen.

Drei Frauen und ein Abwesender, drei Frauen, die für einen Toten leben. Otar ist nicht der einzige Mann, der weggegangen ist. Adas Vater wird als der große Unbekannte geschildert, der in Afghanistan ums Leben kam. Wie Tschechows „Drei Schwestern“ leben die Frauen von der hoffnungsspendenden Kraft der Sehnsucht. Immer wieder liest Ada der Großmutter französische Literatur vor und massiert ihr dabei zärtlich die Füße. Es sind stille Szenen wie diese, die dem sonst düsteren Film atmosphärisch dichte Momente verleihen, voller physischer und seelischer Komplizenschaft.

Julie Bertuccelli, 1968 geboren, drehte zahlreiche Dokumentarfilme und war Regieassistentin bei Altmeistern wie Otar Iosseliani, Bertrand Tavernier oder Krzysztof Kieslowski. Und so ist es auch die Mischung aus Fiktion und Realität, die den Zauber dieses kleinen großen Debüts ausmacht. Ihr Film ist von einer dokumentarischen Ästhetik und nicht zuletzt der Schäbigkeit seiner Originalschauplätze geprägt. Er ist eine komplexe Studie über drei Frauengenerationen, die gezwungen sind, unter einem Dach zu leben. Dass sie sich lieben, ist gewiss, und dennoch ist ihr Verhältnis durch Langeweile, emotionale Klaustrophobie und Hoffnungslosigkeit gestört. Eines Tages, während sich Eka in ihrem Landhaus ausruht, kommt die Nachricht, dass Otar bei der Arbeit auf dem Bau verunglückt ist. Marina bringt es nicht übers Herz, ihr die Wahrheit zu sagen. Wie in „Good Bye, Lenin!“ (fd 35 817) die DDR am Leben gehalten wird, so verstricken sich hier auch Marina und Ada aus Liebe in Lügen, um Eka einen Zusammenbruch zu ersparen. Als Zuschauer wähnt man sich fast in einem Thriller, zittert mit Mutter und Tochter, dass die Wahrheit nicht ans Licht kommt. Ada verfasst von nun an Otars Briefe und zeichnet das Bild eines idyllischen Lebens in Paris, das mehr und mehr dem märchenhaften Ort gleicht, den sie aus Romanen kennt. Anstatt Eka zu beruhigen, wecken die rosigen Nachrichten aber erst recht deren Sehnsucht nach dem verlorenen Sohn. Sie verkauft ihre kostbare Sammlung französischer Bücher und besorgt sich drei Flugtickets nach Paris, wo nicht nur das Lügengebäude einstürzt, sondern auch das Wunschbild eines idealen Frankreichs.

So unspektakulär die Handlung, so prägnant entwickelt sich die Tragik der Figuren. Vor allem der sensiblen Darstellung von Esther Gorintin als Eka ist es zu verdanken, dass der Film neben vielen anderen Preisen in diesem Jahr in Frankreich mit dem „César“ für das beste Spielfilmdebüt ausgezeichnet wurde. Gorintin, eine polnisch- jüdische Schauspielerin, kam 1933 nach Frankreich. Mühelos gestaltet sie Eka als eine hartherzige und zugleich sentimentale Frau, die schon mal heimlich raucht oder kindlich vergnügt auf ein Riesenrad steigt. Hinkend und in einer gebeugten Haltung durchschreitet sie die Wohnung und dirigiert den Haushalt nach der Manier eines Generals. Stets nörgelt sie an ihren Mitbewohnerinnen herum, Otar dagegen stilisiert sie zum Heiligen. Wann immer er anruft, verwandelt sie sich in eine fürsorgliche, auf das Wohl ihres Sohnes bedachte Mutter. An zweiter Stelle sorgt sie sich um Ada, der sie ihre Liebe zu Frankreich vererbt hat. Marina spielt auch noch als Erwachsene die Rolle des trotzigen Kindes und ist die einzige, die der Realität Georgiens nicht mit Eskapismus begegnet, sondern sich ihr stellt, auch um den Preis der Verbitterung. So ist es auch Marina, die am meisten leidet, als sich Ada entschließt, ihrer Heimat den Rücken zu kehren und in Paris zu bleiben. „Seit Otar fort ist …“ beeindruckt durch die kluge Balance aus Pathos, subtilem Humor und Realismus. Zugleich ist es ein zärtliches Porträt einer Familie ohne Männer, in der die Frauen auf sich selbst gestellt sind und dank ihrer Solidarität das Leben dennoch meistern können.

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