Ein Leben lang kurze Hosen tragen

Biopic | Deutschland 2002 | 83 Minuten

Regie: Kai S. Pieck

Die künstlerisch und publizistisch bereits mehrfach gestaltete Vita des Kindermörders Jürgen Bartsch (1946-76) wird in einer kammerspielartigen Biografie neu erzählt. Der Debütfilm fußt auf authentischen Briefen, die der in einer Heilanstalt einsitzende Täter an einen amerikanischen Reporter richtete. In Rückblenden wird das von rigiden Erziehungsmaßnahmen begleitete Erwachsenwerden Bartschs beleuchtet, ohne dass der Film daraus oberflächliche Erklärungsmuster ableiten würde. Sachlich-kühl, mit vielen verfremdenden Elementen inszeniert, öffnet der Film Freiräume, um über die Krankheit eines Individuums und die damit verbundene Täter-Opfer-Dialektik wie auch über die Schwierigkeiten einer Gesellschaft nachzudenken, mit dieser Dialektik umzugehen.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
MTM West/WDR
Regie
Kai S. Pieck
Buch
Kai S. Pieck
Kamera
Egon Werdin
Musik
Kurt Dahlke
Schnitt
Ingo Ehrlich
Darsteller
Tobias Schenke (Jürgen Bartsch) · Sebastian Urzendowsky (Jürgen Bartsch als Jugendlicher) · Ulrike Bliefert (Mutter Gertrud Bartsch) · Walter Gontermann (Vater Bartsch) · Jürgen Christoph Kamcke (Pater Seidlitz)
Länge
83 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Genre
Biopic | Drama
Externe Links
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Diskussion
Am 31. März 1962 beging der 15-jährige Metzgerlehrling Jürgen Bartsch seinen ersten Mord: Das Opfer war ein Junge, den er in einen alten Luftschutzstollen lockte und vor der „eigentlichen“ Tat stundenlang bestialisch quälte. Vier Jahre und drei Morde später wurde Bartsch verhaftet und zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Von einschlägigen Medien als „Bestie von Langenberg“ und „Teufel in Menschengestalt“ stigmatisiert, versuchte er sich drei Mal das Leben zu nehmen. Nach einem Revisionsprozess und der Einweisung in die geschlossene Abteilung einer Landesheilanstalt behandelten Psychiater den von Schuldgefühlen und Mordfantasien Gepeinigten mit Medikamenten und Gesprächstherapien. Im Alter von 29 Jahren, immer noch auf Heilung hoffend, beantragte Bartsch seine Kastration; dabei starb er an einem Narkosefehler.

Die Geschichte jenes „Serienmörders“ ging als einer der spektakulärsten Fälle in die Justizgeschichte der Bundesrepublik ein und verankerte sich tief im allgemeinen Gedächtnis. Auch Publizistik und Kunst wandten sich dem Geschehenen zu: Rolf Schübels Filmessay „Nachruf auf eine Bestie“ (fd 24 447) beispielsweise gehört zu den großen, bleibenden Leistungen des deutschen dokumentarischen Kinos und Fernsehens. Hinzu kamen in den vergangenen Jahren unter anderem Theaterstücke von Oliver Reese („Bartsch, Kindermörder“) und Peter Förster („Der Jahrhundertfall: Kindermörder Bartsch“). Wie Letzterer griff auch der Filmemacher Kai S. Pieck auf ein 1991 im Rowohlt-Verlag publiziertes Buch des amerikanischen Journalisten Paul Moor zurück, der darin Hunderte Briefe, die er von Bartsch aus dem Gefängnis erhalten hatte, zugänglich machte.

Nach seinen Intentionen befragt, das Unfassbare zu visualisieren, betonte Pieck, er habe dem „so genannten ‚Bösen‘ ein Gesicht zu geben“ versucht und damit zeigen wollen, „dass ‚das Böse‘ nicht gemeinhin dem entspricht, was wir uns darunter vorstellen“. Tatsächlich ist sein Jürgen Bartsch kein fratzenhaftes Monster, sondern tritt dem Zuschauer in Gestalt der Darsteller Sebastian Urzendowsky und Tobias Schenke als eher weicher, grüblerischer, um Selbstreflexion bemühter Jugendlicher entgegen. Schenke verkörpert den Verhafteten, der im Gefängnis einem imaginären Gesprächspartner – der Kamera – Auskunft gibt, als einen Suchenden: Er will sich selbst auf die Spur kommen, umgibt sich zugleich aber immer wieder mit Schutzhüllen. Bartsch weiß zwar, was er getan hat, erinnert sich auch an Lustzustände („Ich glaube, ich hatte einen stundenlangen Orgasmus“), doch was während der rauschhaften Morde in seinem Inneren ablief, kann er nicht fassen. Sein als Insert eingeblendeter Aufschrei, „Heilung wäre vonnöten, denn ich bin krank, krank und nochmals krank!“, ist zugleich bitterer Ernst und merkwürdige Koketterie. Der auch im Titel des Films dokumentierte Wunsch, ewig Kind bleiben zu dürfen, spiegelt die Sehnsucht nach dem verlorenen Refugium der Unschuld und die Angst vor der – auch sexuellen – Reife, mit der Ungeheuerliches einher gehen kann.

Auch die ins „Interview“ integrierten retrospektiven Spielszenen verdeutlichen das bedrohliche Gefangensein eines Menschen in seinen Trieben und Brüchen: Der Täter muss zugleich als Opfer seiner selbst begriffen werden – eine Tatsache, die in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren kaum hätte artikuliert werden können. Die Bundesrepublik jener Zeit wird von Pieck nicht als frohes, buntes Wirtschaftswunderland gezeichnet; im Gegenteil: Die Perspektive auf das Adenauer-Deutschland ist stark subjektiv; die Farben des Films sind entsättigt und tendieren eher ins Monochrome; Exterieurs und Interieurs sind kammerspielartig stilisiert, sodass von Wohnküche oder Klassenzimmer ähnliche Bedrohungen ausgehen wie von Bartschs Waldhöhle: Überall lauern Schatten, wird gelogen und gequält, wenn auch mit unterschiedlicher Konsequenz; überall vollzieht sich die Abwendung von der ansonsten gern zur Schau getragenen bürgerlichen Wohlanständigkeit. Dabei verzichtet der insgesamt eher kühle, mit seinen Einblendungen und der Rückblendendramaturgie bewusst brüchige, mit Verfremdungen arbeitende Film darauf, simplifizierende Modelle der Ursachenforschung und Schuldzuweisung anzubieten: Die Taten des Jürgen Bartsch werden nicht einfach als Folge von Einsamkeit und fehlender Liebe im Elternhaus „erklärt“, auch nicht als Konsequenz aus dem Drill in einem kirchlichen Internat oder der Entdeckung seiner homosexuellen Veranlagung, die gerade in diesem Umfeld unweigerlich zur gesellschaftlichen Ächtung führte. Während die Krankheit selbst unerklärt bleibt (bleiben muss), macht der Film deutlich, dass eine sensible Therapie in jener von Drohungen, rigiden Strafen und Mief geprägten Gesellschaft nahezu undenkbar war.

Hervorzuheben sind die Kameraführung von Egon Werdin, der die Interviewszenen auf Video, die Spielszenen auf Film drehte, sowie der Schnitt von Ingo Ehrlich, der die Reibung beider Materialien produktiv nutzte. Bemerkenswert nicht zuletzt, dass Pieck vollkommen auf einen Autorenkommentar verzichtete, sondern ausschließlich Monologe der Hauptfigur übers Geschehen legt. Ein gestalterisches Prinzip, das den Zuschauer verunsichert und ihm zugleich jene Freiräume lässt, die diesem Stoff und Bartschs Schicksal angemessen sind.

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