Ein Leben lang kurze Hosen tragen
Biopic | Deutschland 2002 | 83 Minuten
Regie: Kai S. Pieck
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2002
- Produktionsfirma
- MTM West/WDR
- Regie
- Kai S. Pieck
- Buch
- Kai S. Pieck
- Kamera
- Egon Werdin
- Musik
- Kurt Dahlke
- Schnitt
- Ingo Ehrlich
- Darsteller
- Tobias Schenke (Jürgen Bartsch) · Sebastian Urzendowsky (Jürgen Bartsch als Jugendlicher) · Ulrike Bliefert (Mutter Gertrud Bartsch) · Walter Gontermann (Vater Bartsch) · Jürgen Christoph Kamcke (Pater Seidlitz)
- Länge
- 83 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Genre
- Biopic | Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Die Geschichte jenes „Serienmörders“ ging als einer der spektakulärsten Fälle in die Justizgeschichte der Bundesrepublik ein und verankerte sich tief im allgemeinen Gedächtnis. Auch Publizistik und Kunst wandten sich dem Geschehenen zu: Rolf Schübels Filmessay „Nachruf auf eine Bestie“ (fd 24 447) beispielsweise gehört zu den großen, bleibenden Leistungen des deutschen dokumentarischen Kinos und Fernsehens. Hinzu kamen in den vergangenen Jahren unter anderem Theaterstücke von Oliver Reese („Bartsch, Kindermörder“) und Peter Förster („Der Jahrhundertfall: Kindermörder Bartsch“). Wie Letzterer griff auch der Filmemacher Kai S. Pieck auf ein 1991 im Rowohlt-Verlag publiziertes Buch des amerikanischen Journalisten Paul Moor zurück, der darin Hunderte Briefe, die er von Bartsch aus dem Gefängnis erhalten hatte, zugänglich machte.
Nach seinen Intentionen befragt, das Unfassbare zu visualisieren, betonte Pieck, er habe dem „so genannten ‚Bösen‘ ein Gesicht zu geben“ versucht und damit zeigen wollen, „dass ‚das Böse‘ nicht gemeinhin dem entspricht, was wir uns darunter vorstellen“. Tatsächlich ist sein Jürgen Bartsch kein fratzenhaftes Monster, sondern tritt dem Zuschauer in Gestalt der Darsteller Sebastian Urzendowsky und Tobias Schenke als eher weicher, grüblerischer, um Selbstreflexion bemühter Jugendlicher entgegen. Schenke verkörpert den Verhafteten, der im Gefängnis einem imaginären Gesprächspartner – der Kamera – Auskunft gibt, als einen Suchenden: Er will sich selbst auf die Spur kommen, umgibt sich zugleich aber immer wieder mit Schutzhüllen. Bartsch weiß zwar, was er getan hat, erinnert sich auch an Lustzustände („Ich glaube, ich hatte einen stundenlangen Orgasmus“), doch was während der rauschhaften Morde in seinem Inneren ablief, kann er nicht fassen. Sein als Insert eingeblendeter Aufschrei, „Heilung wäre vonnöten, denn ich bin krank, krank und nochmals krank!“, ist zugleich bitterer Ernst und merkwürdige Koketterie. Der auch im Titel des Films dokumentierte Wunsch, ewig Kind bleiben zu dürfen, spiegelt die Sehnsucht nach dem verlorenen Refugium der Unschuld und die Angst vor der – auch sexuellen – Reife, mit der Ungeheuerliches einher gehen kann.
Auch die ins „Interview“ integrierten retrospektiven Spielszenen verdeutlichen das bedrohliche Gefangensein eines Menschen in seinen Trieben und Brüchen: Der Täter muss zugleich als Opfer seiner selbst begriffen werden – eine Tatsache, die in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren kaum hätte artikuliert werden können. Die Bundesrepublik jener Zeit wird von Pieck nicht als frohes, buntes Wirtschaftswunderland gezeichnet; im Gegenteil: Die Perspektive auf das Adenauer-Deutschland ist stark subjektiv; die Farben des Films sind entsättigt und tendieren eher ins Monochrome; Exterieurs und Interieurs sind kammerspielartig stilisiert, sodass von Wohnküche oder Klassenzimmer ähnliche Bedrohungen ausgehen wie von Bartschs Waldhöhle: Überall lauern Schatten, wird gelogen und gequält, wenn auch mit unterschiedlicher Konsequenz; überall vollzieht sich die Abwendung von der ansonsten gern zur Schau getragenen bürgerlichen Wohlanständigkeit. Dabei verzichtet der insgesamt eher kühle, mit seinen Einblendungen und der Rückblendendramaturgie bewusst brüchige, mit Verfremdungen arbeitende Film darauf, simplifizierende Modelle der Ursachenforschung und Schuldzuweisung anzubieten: Die Taten des Jürgen Bartsch werden nicht einfach als Folge von Einsamkeit und fehlender Liebe im Elternhaus „erklärt“, auch nicht als Konsequenz aus dem Drill in einem kirchlichen Internat oder der Entdeckung seiner homosexuellen Veranlagung, die gerade in diesem Umfeld unweigerlich zur gesellschaftlichen Ächtung führte. Während die Krankheit selbst unerklärt bleibt (bleiben muss), macht der Film deutlich, dass eine sensible Therapie in jener von Drohungen, rigiden Strafen und Mief geprägten Gesellschaft nahezu undenkbar war.
Hervorzuheben sind die Kameraführung von Egon Werdin, der die Interviewszenen auf Video, die Spielszenen auf Film drehte, sowie der Schnitt von Ingo Ehrlich, der die Reibung beider Materialien produktiv nutzte. Bemerkenswert nicht zuletzt, dass Pieck vollkommen auf einen Autorenkommentar verzichtete, sondern ausschließlich Monologe der Hauptfigur übers Geschehen legt. Ein gestalterisches Prinzip, das den Zuschauer verunsichert und ihm zugleich jene Freiräume lässt, die diesem Stoff und Bartschs Schicksal angemessen sind.