„This used to be a fine country. What went wrong?”, fragt Jack Nicholson in „Easy Rider“
(fd 16 524), bevor er umgebracht wird. 34 Jahre später begibt sich Nicholson noch einmal auf die Landstraße. Diesmal nicht mit einem Motorrad, sondern in einem viel zu großen, viel zu teuren Winnebago, den er eigentlich gar nicht haben wollte. Der 66-jährige Versicherungsstatistiker Warren Schmidt, den er spielt, könnte eine Fortschreibung seiner „Easy Rider“-Figur in die Gegenwart des amerikanischen Mittelwestens sein, hätte der Hippie der Protest-und-Drogen-Zeit sie noch erlebt. Auf ihre Weise sind beide Filme Road Movies, und ihre Helden sind in ihrem tiefsten Innern Männer – sehr verschiedenen Alters – auf der Suche nach einer Freiheit und Selbsterfüllung, von der sie nicht einmal wissen, wo und wie sie sie finden könnten. Autor und Regisseur Alexander Payne (eigentlich Papadopoulos, denn er ist griechischer Abstammung) hat die Story eines Romans von Louis Begley aus New York in sein heimatliches Omaha verlegt, dessen Menschenschlag ihm so vertraut ist, dass er auch seine bisherigen Filme dort angesiedelt hatte („Baby Business“, fd 32 913; „Election“, fd 34 421). Aus Begleys schickem Großstadtanwalt ist ein kleiner Provinzangestellter geworden, aber die beherrschenden Themen des Buchs sind unbeschadet vorhanden. Sogar der Romanautor selbst – zunächst verblüfft über den radikalen Orts- und Personenwechsel – bestätigt, dass er seine Gedanken wiedererkennt – „wie Melodien in einer anderen Tonart“.
Warren Schmidt starrt in der Anfangsszene des Films in seinem schäbigen, kahlen, aufgeräumten Büro bewegungslos auf die Normaluhr an der Wand. Als deren Zeiger auf fünf springen, verlässt er die lebenslange Arbeitsstätte, um in den Ruhestand zu treten. Jahrzehntelang hat Warren Schmidt für eine Versicherungsgesellschaft die statistisch verbleibende Lebensspanne jedes Antragstellers kalkuliert, darüber aber ganz vergessen, was das Leben außer Routine sonst noch zu bieten vermag. Auch daheim in dem mit billigen Polstermöbeln und Nippes vollgestopften Vorstadthaus fühlt er sich wie ein Fremder. Als seine Frau, mit der er 42 Jahre verheiratet war, plötzlich an einem Gehirnschlag stirbt, wird er auf sich zurückgeworfen, unfähig, seine Daseinsberechtigung in der Welt zu definieren. Seine Tochter ist aus dem Haus und will einen einfältigen Verkäufer von Wasserbetten heiraten – aber Warren besitzt ohnehin schon lange keinen richtigen Kontakt mehr zu ihr. Dem sechsjährigen Waisenkind Ndugu aus Tansania, das er für 22 Dollar im Monat sponsert, teilt er mehr über seine Lebensumstände mit als der entfremdeten Tochter. Sich und seiner Umgebung überdrüssig, macht sich Warren mit dem von seiner Frau finanzierten nagelneuen Wohnmobil zu einer Reise in die eigene Vergangenheit auf. Doch auch die Stätten der Kindheit erweisen sich als fremd und abweisend. Als er schließlich in die Hochzeitsvorbereitungen der Tochter hineinplatzt, fühlt er sich in der funktionsgestörten Familie des zukünftigen Schwiegersohns noch weniger wohl als in seinem eigenen leeren Dasein. Er schleppt sich mehr schlecht als recht durch die Feierlichkeiten und zweifelt während der langen Heimfahrt nur noch stärker an der Signifikanz seines Lebens.
So erzählt – und das sind die wesentlichsten Stationen der Filmhandlung –, hört sich die Story alltäglich und deprimierend an. Alltäglich, ja, das ist sie, aber bei der Vermutung des Deprimierenden hat man die Rechnung ohne Alexander Payne gemacht. Schon seine beiden früheren Filme wandelten auf dem schmalen Grat zwischen Wahrheit und Satire. In „About Schmidt“ gelingt es ihm nun, diese seltene Begabung zu einem Balanceakt von hoher Kunstfertigkeit auszubauen. Es gibt nahezu keinen Augenblick, in dem sich Tragik und Komödie, Hoffnung und Verzweiflung nicht untrennbar überlagern. Figuren und Situationen sind mit einem unbestechlichen Blick für die Realitäten des amerikanischen Mittelwestens konzipiert, entlarven sich aber gleichzeitig durch den pointierten satirischen Zugriff der Inszenierung in ihrer illusionären Kurzsichtigkeit und ichbezogenen Gedankenlosigkeit. Mit Hauptdarstellern wie Jack Nicholson und Kathy Bates lassen sich in solchen Grenzsituationen wahre Wunder vollbringen. Bates zieht alle Register der nach zwei geschiedenen Ehen unbefriedigten Matrone fortgeschrittenen Alters. Und Nicholson, den man selten so diszipliniert gesehen hat, kriecht förmlich hinein in die Schale des vom Leben und von sich selbst enttäuschten kleinen Mannes. Als Zuschauer fühlt man sich erinnert an Arthur Millers Handlungsreisenden, an Harry Coombs in „Harry und Tonto“
(fd 20 729) und vielleicht sogar ein bisschen an den alten Sonderling in David Lynchs „Eine wahre Geschichte – The Straight Story“
(fd 33 981). Doch trotz mancher Parallelen entwirft Nicholson eine ganz eigene Figur, die sich vor Vergleichen nicht zu scheuen braucht.
Es sind weniger die großen Linien der Handlung als die mit so ungeheurer Genauigkeit und Sorgfalt beobachteten Details, die dem Film seine Dimension verleihen – sowohl seine Tiefe als auch seine Komik. Statt vieler anderer Beispiele seien nur die leitmotivischen Briefe erwähnt, die Warren Schmidt an sein nie gesehenes „Patenkind“ Ndugu schreibt: Texte, die von zunächst buchhalterisch addierten Fakten über eruptive Gefühlsäußerungen bis zu selbstbetrügerischen Interpretationen der Realität reichen. Ein Kunstgriff, der ebenfalls viel zur Ambivalenz der Story beiträgt, ist Paynes bedachte Langsamkeit der Inszenierung, die Darstellern und Situationen Zeit lässt, zuerst mit vordergründiger Komik, dann aber auch mit tieferer Bedeutung ins Bewusstsein des Zuschauers zu dringen. Wie genau durchdacht das Konzept ist, erweist sich vollends in der sparsamen Schlusssequenz, die das gesamte Geschehen mit erstaunlicher Eindringlichkeit in einer einzigen langen Großaufnahme Jack Nicholsons zusammenfasst.
„About Schmidt“ ist aber bei weitem nicht nur „about Schmidt“. Warren Schmidt verkörpert vielmehr eine Generation, die stellvertretend ist für das heutige Amerika, in dem viele Menschen ihre Selbstsicherheit und ihren Boden wanken sehen. In den monolithischen Konzernen der Nach-Reagan-Ära (wie treffend die allerersten Bilder des Films!) ist ihnen das individuelle Wertgefühl, das einst einer der Grundpfeiler der amerikanischen Gesellschaft war, gründlich ausgetrieben worden. Was bei Arthur Miller noch als tragisches Einzelschicksal durchgehen konnte, ist inzwischen die Regel: die Austauschbarkeit des Einzelnen im anonymen Gefüge allmächtiger Wirtschaftskonzerne. Das Gefühl eines erfüllten Lebens ist dem Zweifel am eigenen Ich gewichen, der durch phrasenreiche Lobreden wie bei Schmidts Verabschiedung in den Ruhestand nicht relativiert werden kann. Auch über dem Schicksal von Warren Schmidt könnte Nicholsons Frage aus „Easy Rider“ stehen: „This used to be a fine country. What went wrong?“