Wer sich einmal dem Konzept verschrieben hat, sein Leben aktiv in die Hand zu nehmen, dem sind sämtliche Dinge zuwider, die Passivität voraussetzen. Dazu kann auch das Gefahrenwerden zählen. Folglich mag sich der 73-jährige Alvin Straight niemals mehr in ein Auto, einen Bus oder in sonst ein Gefährt setzen, das er nicht selbst lenkt. Da der alte Mann aus Iowa aber inzwischen außer Stande ist, ein Auto oder einen Bus zu lenken, müssen längere Reisen anders bewältigt werden. Eines Tages steht die Reise seines Lebens an. Sein Bruder hat einen Herzanfall erlitten, und da die beiden seit einem Streit vor zehn Jahren kein Wort mehr miteinander gesprochen haben, hält Alvin jetzt die Zeit der Versöhnung für gekommen. Doch Lyle lebt in Wisconsin, und das einzige Gefährt, das Alvin fahren kann, ist sein Rasenmäher-Traktor. Also packt er ein paar Sachen in einen Anhänger für eine Reise, die einige Wochen dauern wird, und macht sich auf den Weg. Kurz vor der nächsten Ortschaft gibt zwar der Rasenmäher, nicht aber Alvin Straight auf, der sich einen neuen, gerade einmal 30 Jahre alten Mäher kauft und mit ihm die Fahrt fortsetzt. Es wird eine Reise durch die Provinz des amerikanischen Mittelwestens, vorbei an Weiden und Dörfern und begleitet von Zusammentreffen mit Menschen unterschiedlichster Charakteristik und Lebensweise.Überraschend an dem Film ist zweierlei: Als Erstes fällt auf, dass der Mittelwesten hier ein Gesicht erhält, das er seit langem nicht mehr im amerikanischen Kino zeigen durfte – ein menschliches. Alvin Straight selbst, im Übrigen nach einer authentischen Figur geschaffen, scheint die liebevolle Zuwendung der Menschen, auf die er trifft, geradezu hervorzurufen. Der weißhaarige, bärtige Kauz, den unerschütterlichere innere Ruhe und ein gehöriges Maß an Lebensweisheit kennzeichnet, muss in das Leben aller Menschen ein wenig Zuversicht bringen; er erscheint ihnen als Projektionsfläche ihrer versteckten Sehnsüchte, über die sie mit ihren Nachbarn im Rahmen des engen Lebensraumes, den ein Dorf darstellt, nicht reden können. Doch die Menschen wirken auch von sich aus bereits beseelt von dem Wunsch und dem Streben nach Harmonie mit sich selbst und dem Rest der Welt; danach, auch die Wünsche ihrer Mitmenschen zu respektieren und diese nicht zu dominieren.Es ist zweifellos eine Utopie, die „Eine wahre Geschichte – The Straight Story“ entwirft, das ur-utopische Konzept einer Welt, in der das menschliche Miteinander von Konflikten bereinigt ist, zum Wohle aller. Und es ist, das ist die zweite Überraschung, ein Film von David Lynch, co-produziert vom verdienstvollen französischen Altproduzenten Alain Sarde. Lynch hatte in seinen bisherigen Filmen genau das Gegenteil gezeigt: das Leben als Albtraum, in dessen Verlauf der äußere, gesellschaftliche, und der innere, psychologische Horror den Menschen das Leben zur Hölle machen. Ähnlich wie Salvador Dalí eines Tages begann, an die Stelle seiner surrealen Traumbilder katholische Motive zu setzen, oder wie Spielberg nach Jahren eifriger Märchenkino-Produktion plötzlich ernsthafte Filme drehte, so erscheint nunmehr David Lynch geläutert und weise – zumindest vordergründig. Tatsächlich steht „The Straight Story“ durchaus im Zusammenhang mit Lynchs vorangegangenem Werk, als direkter Gegenentwurf, ja als Rückseite derselben Medaille. Die Wiederentdeckung der Langsamkeit für das Kino, trotz des gedehnten Tempos brillant in Szene gesetzt, die Rehabilitierung der Provinz und die radikale Gutmütigkeit der Figuren wirken trotz aller wunderbar eindringlicher Darstellkunst und bestechend minimaler Dialoge wie ein schöner Traum, in den die andere, dunkle Seite durchaus einzubrechen imstande ist. Da begegnet Alvin auf der Landstraße einer Frau, die wie dutzende Male zuvor gerade wieder ein Reh überfahren hat und sich wundert, wieso ausgerechnet ihr das immer wieder passiert. Diese Szene bedeutet nicht nur einen Rückbezug auf ähnliche Momente in Lynch-Filmen wie „Wild at Heart“
(fd 28 529), sondern auch auf die dort illustrierte, von Zufall, Mutwilligkeit und dem nackten Grauen gleichermaßen beherrschte Welt. Die Zwillinge, die Alvins Rasenmäher reparieren, könnten ihre gegenseitige Aversion weiter ausspielen und in einem schrecklich nüchternen Kampf Lynchscher Prägung münden lassen, wäre da nicht Alvins kleine Rede, die Psychoanalyse und Erleuchtung zugleich bereitstellt. All die Gestörten und Psychopathen, die Lynch bislang mit so viel Zuwendung gezeigt hat, von Anfang an, es gibt sie noch. Aber mit ein bisschen Glück kann man sie retten oder ihnen wenigstens aus dem Weg gehen, in Iowa, Wisconsin oder anderswo.