Dokumentarfilm über den schottischen Land-Art-Künstler Andy Goldsworthy, der erstmals eine Langzeitbeobachtung über Entstehung, Abschluss und Auflösung seiner Skulpturen gestattet. Er arbeitet ausschließlich mit Naturmaterialien, die er auch am Ort ihres tatsächlichen Vorkommens einsetzt. Der Film belegt, dass es sich bei Goldsworthy keineswegs um einen primär auf Effekte zielenden Handwerker handelt, sondern um einen testamentarisch arbeitenden Künstler, dessen Werk authentische Transzendenz fern von esoterischen Banalitäten entfaltet. Im Zusammenspiel mit der ästhetisch adäquaten Filmsprache und der kontrapunktisch eingesetzten Musik Fred Friths entstand ein Glücksfall fürs dokumentarische Kino. (O.m.d.U.)
- Sehenswert.
Rivers and Tides - Andy Goldsworthy Working With Time
Dokumentarfilm | Deutschland/Großbritannien/Finnland 2000 | 90 Minuten
Regie: Thomas Riedelsheimer
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland/Großbritannien/Finnland
- Produktionsjahr
- 2000
- Produktionsfirma
- Mediopolis/Skyline/WDR/arte/YLE
- Regie
- Thomas Riedelsheimer
- Buch
- Thomas Riedelsheimer
- Kamera
- Thomas Riedelsheimer
- Musik
- Fred Frith
- Schnitt
- Thomas Riedelsheimer
- Länge
- 90 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert.
- Genre
- Dokumentarfilm
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- IMDb | TMDB
Heimkino
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Ein grauhaariger, bärtiger Mann Anfang 50 steht in felsiger Uferlandschaft und legt in höchster Konzentration eine kreisrunde Formation flacher Steine aufeinander, die sich langsam zu einem eiförmigen Gebilde türmen. Plötzlich scheint ein Segment in seiner Statik falsch kalkuliert – sein Sturz reißt den gesamten Kegel ein. Der Mann hält kurz in seiner Arbeit inne, blickt verzagt auf die Trümmer, beginnt von vorn. Fünf Anläufe wird er benötigen, um die reichlich 150 Zentimeter hohe Skulptur bis zur Vollendung zu führen. Eine Arbeit gegen die Zeit, denn die Flut frisst sich Stück für Stück weiter in Richtung des Standorts. Zwei Mal wird der Steinkegel nach Fertigstellung dem Auf und Ab von Ebbe und Flut standhalten, bis er krachend in sich zusammenfallen und seine Einzelteile nach und nach an dieser Schnittstelle zwischen Festland und Ozean verteilen werden, ohne eine einzige Spur zu hinterlassen.
Ort des Geschehens ist Foxpoint in Kanada, das mit 18 Metern wechselndem Wasserpegel die weltweit größte Spanne zwischen Ebbe und Flut aufzuweisen hat. Der Mann am Ufer, Urheber dieses vergänglichen Kunstwerks, heißt Andy Goldsworthy – heute neben Richard Long der namhafteste Vertreter der Land-Art. Die beschriebene Szene vereint die wichtigsten Momente seines künstlerischen Konzepts. Goldsworthy arbeitet ausschließlich mit Naturmaterialien, die er auch am Ort ihres tatsächlichen Vorkommens einsetzt. Entstehung, Abschluss und Auflösung seiner Objekte stellen einen Prozess mit verschwimmenden Grenzen dar. Sie sind vergänglich und immobil, deshalb auch für Ausstellungen und zum Verkauf ungeeignet. Allerdings werden sie dokumentiert, auf Fotografien fixiert, die dann Eingang in Galerien finden und zu hohen Preisen auf dem Kunstmarkt verkauft werden. Seit einigen Jahren gehören die in Bildbänden zusammengefassten Zyklen seiner Arbeiten zu den Bestsellern unter den Kunstbüchern, auch in Deutschland. Goldsworthy ist überaus erfolgreich. Bislang hat er sich einer filmischen Langzeitdokumentation seiner Arbeit verweigert. Ein Glücksfall, dass er diesem Prinzip nun untreu geworden ist. Denn „Rivers and Tides“ des seelenverwandten Thomas Riedelsheimer beweist, dass es sich bei dem in Schottland lebenden Künstler keineswegs um einen primär auf wohlfeile Effekte zielenden Handwerker handelt. Während der sich über mehr als ein Jahr erstreckenden Dreharbeiten in Europa und Nordamerika konnte der Filmemacher die Facetten des Goldsworthyschen Universums erfassen und durch eine ästhetische Anverwandlung seiner Filmsprache nachvollziehbar machen. Das Ergebnis ist eines der assoziationsreichsten, weil über das konkrete Subjekt weit hinausgehenden Künstlerporträts der letzten Zeit. Ein Ausnahmefilm des aktuellen dokumentarischen Kinos.
Goldsworthy zitiert in seinen temporären Skulpturen archaische Architekturen wie die aus Feldsteinen errichteten Mauern in seiner schottischen Heimat oder die Bories, die in der Provence noch heute vorzufindenden Steinhütten ohne Fundament und Gebälk. Wichtiger noch sind ihm Phänomene, die aus den Launen der Natur entstanden sind. Kreisrunde Auswaschungen in Flusssteinen, bizarre Verwachsungen von Wurzeln, in geometrischen Strukturen erstarrte geologische Formationen. Er reduziert das vorgefundene Material oder entwickelt es morphologisch weiter, stellt es in neue Zusammenhänge; er denkt sich aber keine aberwitzigen Konstellationen aus, erfindet eigentlich nichts. Von immenser Bedeutung erweist sich in diesem Zusammenhang das Prozesshafte seiner Arbeit. Durch die langsame Annäherung an die Struktur der verwendeten Stoffe und das dabei angehäufte Wissen kann er aus deren Eigendynamik schöpfen, hat es – im Gegensatz etwa zu Christo – nicht nötig, etwas Fremdes überzustülpen oder aufzupfropfen. Alles, was man im Film erlebt oder sieht, kommt aus der Substanz der Objekte selbst. Im Umkehrschluss funktionieren die Skulpturen Goldsworthys wie Katalysatoren unserer Wahrnehmung gegenüber der nicht-manipulierten Natur. Wenn die filigranen Gebilde des Künstlers erodieren, bis sie vollends eingegangen in der ursprünglichen Umgebung sind, verbleiben sie – obwohl keine Spur sichtbar bleibt – merkwürdigerweise reicher und schöner als vorher. Mitunter erscheinen die kurzzeitigen Eingriffe wie modifizierte Zeitraffersequenzen von mikro- und makrokosmischen Prozessen, die unser Auge nicht zu erfassen vermag. Auch dadurch kommt es, dass sich die Arbeiten Goldsworthys im Spiegel von Riedelsheimers Film auf eine angenehme Weise als transzendent erweisen. Im Zusammenspiel mit der ästhetisch adäquaten Filmsprache und der über große Strecken kontrapunktisch eingesetzten Musik Fred Friths wird jedoch jede Nähe zu esoterischen Banalitäten ausgeschlossen.
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