Dokumentarischer Film, der im Sommer 1998 nächtliche Kunden einer Tankstelle in Ludwigshafen beobachtet und einen Mikrokosmos aus zufälligen und ständigen Gästen, Yuppies und Gestrandeten, Alten und Jungen, Deutschen und Ausländern einfängt. Zwar nicht zwingend und konsequent genug in seiner Gestaltung, verdichtet sich die Dokumentation in ihren besten Momenten doch zu einem diskussionswerten Gesellschaftsbild mit politischer und soziologischer Relevanz, das die Stimmung am Ende der Regierungszeit Helmut Kohls spiegelt und dabei eine zunehmende Hilflosigkeit angesichts von Gewalt einfängt.
- Ab 14 möglich.
Nachttanke
Dokumentarfilm | Deutschland 1999 | 88 Minuten
Regie: Samir Nasr
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 1999
- Produktionsfirma
- Filmakademie Baden-Württemberg/Samir Nasr Filmprod./Liliom Film
- Regie
- Samir Nasr
- Buch
- Samir Nasr
- Kamera
- Stefan Runge
- Musik
- Dieter Schleip
- Schnitt
- Raimund Barthelmes
- Länge
- 88 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14 möglich.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Im Juni und Juli 1998 baute Samir Nasr seine Kamera einen Monat lang nachts an einer Tankstelle in Ludwigshafen auf. Es waren besondere Abende: In Frankreich fand die Fußball-Weltmeisterschaft statt, und das Schicksal der deutschen Elf beschäftigte fast jeden der Kunden. So kommentierten sie, was drüben, jenseits der nahen Grenze, an Schlachten geschlagen wurde, und alle hatten das Gefühl, Fachmann zu sein: die Alten und die Jungen, die Säufer und die Yuppies, Deutsche, Türken, Bosnier, Mercedes-Fahrer und Plastiktütensammler. Samir Nasrs Dokumentation ist aber nur bedingt ein Fußballfilm; der sportliche Wettstreit wird eher als loser roter Faden benutzt, der von einer Nacht in die andere führt. Dem Regisseur schwebte eine größere Dimension vor: Er wollte die „Stimmung im Lande am Ende der Ära Kohl“ erkunden, Zufallsbegegnungen zu einem Gesellschaftsbild von soziologischer und politischer Relevanz verdichten. So sollte der Einzelne nicht nur für sich selbst stehen, sondern für Empfindungen und Geisteshaltungen vieler. Entsprechend dieser angestrebten Höhe beginnt „Nachttanke“ mit einem Shakespeare-Zitat: „Wer nicht bei Tage gehen darf, schleicht bei Nacht.“Mit vielen Beobachtungen hatte Nasr das Glück, in die Nähe seines Ziels zu gelangen: Zum tragikomischen Running Gag werden etwa die Auftritte eines jungen, dicklichen Taxifahrers, der auf die Frage, wie sein Geschäft laufe, regelmäßig ein Klagelied anstimmt. Die Antwort auf seine phlegmatische Melancholie erscheint in Gestalt einer alten Dame, die, obwohl gehbehindert, täglich für ihre Nachbarn einkauft. Sie sei Krankenschwester gewesen und könne den Dienst am Nächsten jetzt nicht einfach so beenden. Und wenn sie dafür keine Liebe zurückbekäme?, fragt der Regisseur, worauf er die lapidare Auskunft erhält: „Macht nichts, ich habe Herztropfen.“ Solche Sequenzen folgen nicht unbedingt didaktisch aufeinander, werden aber in der Gesamtschau als Gegensatzpaar deutlich. Daneben gibt es direkte szenische Konfrontationen, etwa wenn ein Klarinettist des Mannheimer Theaters mitten in der Tankstelle auf Bitten der Filmemacher ein Solo aus dem „Barbier von Sevilla“ vorträgt – und anschließend ein junger Skinhead seine Tätowierungen am Oberarm erklärt: „Blut und Ehre“. Insgesamt sind die Haltungen des Regisseurs zu seinen Protagonisten von keinerlei Ressentiments gezeichnet. Der hilflose Trinker ist ihm, so scheint es, ähnlich wichtig wie der nette Iraner oder der lächelnde Pastor, der Liebe predigt, sein Herz für Aussteiger, Gestrandete und Randgruppen preist – und in einem Mercedes davonfährt. „Nachttanke“ verzichtet auf verbale Kommentare, gibt keine Bewertungen vor, überläßt die Urteile ebenso wie ein mögliches Fazit dem Zuschauer. Als einer der Kernpunkte, wenn nicht als zentrales Thema schält sich die Frage der Gewalt heraus: Ohne Gewalt oder zumindest den Gedanken daran scheint diese Gesellschaft nicht existieren zu können.Gewalt, Unversöhnlichkeit und die Hilflosigkeit, dem wirkungsvoll zu begegnen, offenbaren sich in den verschiedensten Facetten: vom Terror im Umfeld der Fußballplätze bis zum alltäglichen, teilweise irrationalen Hass auf den anders aussehenden, anders denkenden, andersartigen Nachbarn. Links, rechts, oben, unten: Es gibt keinen Frieden unter deutschen Dächern, wobei die Schwungkraft des Turbokapitalismus immer mehr Menschen an die so genannten Ränder drückt: in eine Gefahrenzone aus Angst, Unbehaustheit, Wurzellosigkeit, Armut, Neid, Zorn. Nachts an der Tankstelle haben die Ausgegrenzten, Vereinsamten eine Art Zuhause. Nasr spielt mit Irrationen: Nicht alles ist so, wie es zunächst aussieht. So hinterlässt der erste Auftritt von drei türkischstämmigen Jugendlichen zwar einen schalen Nachgeschmack, wenn gleich darauf das Messer gezückt wird: „Ein Türke ohne Messer ist kein Türke.“ Die Attitüde der Stärke und permanenten Gewaltbereitschaft verschwindet im Lauf des Films aber immer mehr, und die Jungen, die sich als unerschütterliche Machos präsentierten, scheinen die Kamera fast zu vergessen, als sie später aus ihrem Leben erzählen, etwa von ihren Drogenerfahrungen. Trotz vieler schöner Details: Etliche Szenen, vor allem vom Personal der Tankstelle, sind entbehrlich, einzelne Figuren geben nichts her. Inkonsequent wirkt die Arbeit mit den Inserts: Während zu Beginn die Namen vieler „Darsteller“ eingeblendet werden, bleiben diese Inserts bald auf der Strecke. Auch das Prinzip, zwischen den einzelnen Drehtagen einige Titelblätter des „Bild“-Zeitung zu zeigen, deren Schlagzeilen den Fußball-Kampf gleichsam zur Entscheidungsschlacht der Nation hochstilisieren, wird nicht konsequent durchgehalten. Es hätte den Gedanken einer allgegenwärtigen Gewalt wirkungsvoll unterstützen können; in der jetzigen Form bleibt es nur schmückendes Beiwerk.
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