Ein idyllisch gelegenes Internat irgendwo im Bayerischen: ein wahrhaftiges Schloss, gebettet in die dazugehörige Fantasielandschaft mit Bergen, Wald und See. An Orte wie diesen schiebt der gehobene Mittelstand (West-)Deutschlands gern seinen Nachwuchs ab, gibt viel Geld dafür aus, um ihn irgendwann doch noch bis zur Hochschulreife zu manövrieren. Benjamin Lebert verbrachte in einer solchen Einrichtung ein Jahr seines Lebens; gerade einmal 16-jährig, verarbeitete er die damit verbundenen Erlebnisse in seinem Roman „Crazy“, mit dem er zum jüngsten deutschsprachigen Bestsellerautor aller Zeiten avancierte. Nur fünf Monate nach Erscheinen dieses Romans machte sich Hans-Christian Schmid an die Verfilmung. Er benutzte dabei den tatsächlichen Ort der Handlung: Aus dem authentischen Neubeuern wurde das filmische „Neuenseelen“. Der halbseitig gelähmte Benjamin ist kein Kind mehr und noch kein Erwachsener; gerade in dieser zugleich schlimmsten wie schönsten Zeit des Heranwachsens muss er zum nunmehr fünften Mal die Schule wechseln und in einem geschlossenen sozialen System seinen Platz bestimmen bzw. erkämpfen. Elementare Ängste vermischen sich mit Sehnsüchten und Utopien, alles wirbelt durcheinander. Sein gleichaltriger Mitschüler Janosch, mit dem er auch das Zimmer teilt, gibt sich demonstrativ cool, lässt keinen Einblick in seine wahren Gemütszustände zu. Beiden wird die schöne Mitschülerin Malen zur Projektionsfläche ihrer Idealvorstellungen vom anderen Geschlecht. Parallel zur sich herausbildenden Freundschaft zwischen Benjamin und Janosch entwickelt sich das Konkurrenzgebaren der Beiden gegenüber Malen. Als wäre dies nicht genug der Verwirrung, muss Benjamin auch noch die Krisensituation im Elternhaus verarbeiten, das ihm doch eigentlich bei den seltenen heimatlichen Besuchen Stabilität verleihen sollte. Von seinen schier unüberwindlichen Schwierigkeiten im Fach Mathematik ganz zu schweigen. Es ist gerade diese Häufung von Problemen, die ihn zu einer eindeutigen Stellungnahme zwingt und schließlich eine völlig neue Perspektive auf das eigene Leben herbeiführt. Nämlich die, endlich aus den fremdbestimmten Linien auszubrechen.Die Frage, ob es sich bei Leberts Roman tatsächlich um Literatur handelt oder lediglich um einen überlangen, dabei nicht untalentierten Schüleraufsatz, sei einmal dahingestellt. Fest steht, dass „Crazy“ ein lebendiges Sittenbild darstellt, dabei zahlreiche plastische Momente enthält, die über das bloße Protokoll eines Kindheitsverlusts hinausreichen. Zwar nicht im gleichen Maße reich an Subtexten oder gar an Sprachgewalt wie die klassischen deutschen Internats-Romane von Ernst Jünger bis Robert Musil, entspricht „Crazy“ ja gerade in seiner distanzlosen Unbekümmertheit dem Geist seiner Zeit. Es ist interessant, die Analogien des Genres zu untersuchen, die auch in die Verfilmung des Buchs einfließen: Initiationsriten, Lagerfeuerromantik, Alkoholexzesse, verzweifelte Versuche des „Zugangs zum anderen Geschlecht“ (Klaus Theweleit). Anders als in Schmids beiden früheren Filmen über jugendliche Selbstfindungs- („Nach Fünf im Urwald“, fd 31 882) und Entfremdungs-Prozesse („23 - Nichts ist so wie es scheint“, fd 33 482) liegt im Handlungsgerüst von „Crazy“ keine treibende Komponente vor. Die Ereignisse fädeln sich mehr oder weniger auf, ohne zwingend verknüpft zu sein. Sieht man von der doppelten Liebe zum Mädchen Malen und der aussichtslosen Lage Benjamins in Mathematik sowie von seiner Behinderung einmal ab, fehlen Kontinuitäten völlig. Die Ereignisse hätten so oder auch anders stattfinden können. Schmid und Co-Autor Michael Gutmann nutzen die sich daraus ergebende dramaturgische Freiheit folgerichtig für eine genaue charakterliche Verortung der Hauptperson. Mitunter transportieren die Situationen jedoch einfach zu wenig, gerät die Analyse der Hauptperson durch sich selbst zu zaghaft. Der Film geht hier nicht über das Buch hinaus, setzt ihm kein eigenes Konzept entgegen. In solchen Momenten fällt Regie und Buch dann auch nichts anderes ein, als Musik oder „poetische Bilder“ in die Szene zu pumpen, um damit eine angenommene Atmosphäre lediglich zu illustrieren, statt selbst eine solche zu kreieren.Auch wenn „Crazy“ im bislang schmalen Werk Schmids keine Spitzenposition einnimmt, rangiert der Film doch immer noch meilenweit über dem Gros deutscher Gegenwartsfilme. Sensibel in der Figurenzeichnung, präzise bei der Schauspielerauswahl und -führung, vermag er durchgehend zu fesseln und vor allem für die Nöte Jugendlicher zu sensibilisieren. Es ist viel leichter, diese als unerheblich zu bagatellisieren, als weitab vom „wirklichen Leben“ einzustufen. Aber die behandelten Ängste und Hoffnungen sind absolut existenziell, stellen für die Betroffenen im Moment des Erlebens die einzige Wahrheit dar. Man muss sich nur die Mühe machen, sich zu erinnern, und nichts anderes tut Schmid. Kein größerer Unterschied wäre zur Teenie-Komödie „Harte Jungs“
(fd 34 180) denkbar: Obwohl in beiden Filmen die gleichen Ingredienzen, ja teilweise sogar analoge Handlungsmomente vorkommen, liegen zwischen ihnen Welten. Der dreisten Anbiederung Rothemunds steht die genaue Beobachtung durch Schmid gegenüber, „Harte Jungs“ wirft mit Zoten um sich, „Crazy“ funktioniert durchaus auch als Studie.