Ein Lehrer aus Tokio verpasst nach einem Ausflug ans Meer den Bus zur Rückfahrt. Dorfbewohner bieten ihm eine Übernachtungsmöglichkeit in der Hütte einer Frau mittleren Alters an, bei der er freundliche Zuwendung findet. Am anderen Morgen verwehrt ihm eine gewaltige Sanddüne die Rückkehr ins normale Leben. Allmählich arrangiert er sich mit seinem Schicksal, das ihm Frondienste aufzwingt, um die Ausbreitung der Düne einzudämmen, und mit seiner Wirtin, die an sexueller Anziehungskraft gewinnt. Existenzialistische Metapher voller bildgewaltiger Symbolismen, die die Orientierungslosigkeit der japanischen Gesellschaft nach dem verlorenen Krieg, der Abdankung des Tenno und angesichts einer sich wandelnden Weltwirtschaft spiegelt. Ein Meilenstein des japanischen Kinos.
- Sehenswert ab 16.
Die Frau in den Dünen
Drama | Japan 1964 | 147 (fr. 122) Minuten
Regie: Hiroshi Teshigahara
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Filmdaten
- Originaltitel
- SUNA NO ONNA
- Produktionsland
- Japan
- Produktionsjahr
- 1964
- Produktionsfirma
- Teshigahara
- Regie
- Hiroshi Teshigahara
- Buch
- Kôbô Abe
- Kamera
- Hiroshi Segawa
- Musik
- Toru Takemitsu
- Schnitt
- Fusako Shuzui
- Darsteller
- Eiji Okada (Mann) · Kyôko Kishida (Frau) · Koji Mitsui (alter Mann) · Sen Yano (Dorfbewohner) · Hiroko Itô (Frau des Mannes)
- Länge
- 147 (fr. 122) Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 16; f (fr. ab 18)
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama | Literaturverfilmung
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Ein Lehrer aus Tokio fährt im Sommer an die Küste, um dort nach seltenen Insekten zu suchen. Da er die Busrückfahrt verpasst, bieten ihm Dorfbewohner eine Schlafgelegenheit an. Sie bringen den Städter zu einem einfachen Bretterhaus unterhalb einer Klippe, das nur mittels Strickleiter zu erreichen ist. Eine Frau mittleren Alters verköstigt ihn, reinigt Wohnung und Geschirr vom durchsickernden Sand und schaufelt anschließend das ständig von der Düne bedrohte Haus wieder frei. Am Morgen stellt der Mann fest, dass unüberwindbare Sanddünen das Nachtquartier einschließen, die Strickleiter fehlt: Er ist gefangen. Seine Gastgeberin erzählt, sie müsse für die Dorfgemeinschaft die Bedrohung durch den Sand, dem ihr Mann und ihr Sohn zum Opfer fielen, minimieren. Nur mit dem Nötigsten versorgt, sinnt der Lehrer auf Flucht, fesselt die Witwe, erlebt aber die eigene Ohnmacht an den Sandwällen. Nach und nach scheint er sich in sein Schicksal zu fügen. Zwischen den Leidensgenossen entwickelt sich beim täglichen Reinigen und Waschen des Körpers eine sexuelle Anziehung, die mit dem Dahinfließen des Sands korrespondiert. Eines Abends verlangen die zum Maskentanz angetretenen Dörfler vom Mann für die Erlaubnis, einige Minuten das Meer von der Klippe aus sehen zu dürfen, den öffentlichen Beischlaf des gefangenen Paares. Das Schauspiel schlägt fehl. Durch eine Krähenfalle entdeckt der Fremde im Boden die Saugwirkung des Sands, mit der sich Wasser sammeln lässt. Nach einigen Monaten fühlt sich die Frau unwohl, sie ist schwanger. Als die Dörfler sie nach oben bringen, klettert auch der Mann auf die Dünen und blickt auf die Küste. Doch er steigt wieder hinab in sein Gefängnis, betrachtet sich im Wasserspeicher. Eine Meldung am Ende sagt: Der 1927 geborene Niki Jumpei sei seit sieben Jahren verschollen und gelte als vermisst.
„Die Frau in den Dünen“ kam 1966 in einer 122 Minuten langen Fassung mit der (vom Verleih beantragten) FSK-Freigabe „ab 18“ in die Kinos. Danach war die gelungene Adaption des gleichnamigen Romans von Kôbô Abe (eigentlich: Kimifusa Abe, 1924-93) Jahrzehnte lang kaum zu sehen. 2005 zeigte das Japanische Filmfestival in Hamburg das Werk zum 75. Geburtstag des innovativen Komponisten Tôru Takemitsu; seit 2007 macht der schweizerische Verleih trigon-film das Werk im „Director’s Cut“ zugänglich. „Die Frau in den Dünen“ von Hiroshi Teshigahara entstand mit einem Budget von 100.000 Dollar und ist auch heute noch als filmästhetisch-avantgardistische Sensation zu bezeichnen. Die existenzialistische Parabel reflektiert – wie Akira Kurosawas gleichzeitig gedrehter Film „Rotbart“ (fd 38 515) – eine nachdenkliche, gesellschaftskritische Stimmung von einer Verlierer-Nation des Zweiten Weltkriegs auf dem Sprung in die Moderne, an die Spitze der Weltwirtschaft. „Die Frau in den Dünen“ ist eine kühne Symbiose aus Experimental- und Spielfilm. Die grafischen Muster der Dünen, die gletscherförmigen Spuren und Veränderungen im Sand symbolisieren das Innenleben der beiden Hauptfiguren: Der Mann leidet unter äußerer wie innerer Gefangenschaft, da ihm der Freiheitsentzug zunächst jede Hoffnung auf eine Rückkehr ins gewohnte Ambiente, in den Berufsalltag, den Traum, als Forscher eine neue, ruhmreiche Identität aufzubauen, raubt. Durch das Akzeptieren der Sisyphusarbeit, scheinbar sinnlos jeden Tag Sand zu schaufeln, um der Dorfgemeinschaft zu helfen, verbunden mit dem Verzicht auf seine Freiheit, lernt er am Beispiel der ihm intellektuell unterlegenen Frau eine gezielte Überlebensstrategie, die sein bisheriges Leben radikal in Frage stellt. Schaufelt man den Sand, arbeitet man, um zu leben, oder lebt man, um Sand zu schaufeln, zu arbeiten? Eine nicht zuletzt dem Existenzialismus entlehnte Fragestellung, die der Sartre und Kafka verehrende Autor auf seine Geschichte überträgt. Was draußen, in der Welt geschieht – im Japan nach dem Zweiten Weltkrieg tobt der Kampf um den Anschluss an die Weltwirtschaft, das asiatische Wirtschaftswunder nimmt konkrete Formen an –, wird durch den plötzlichen Einbruch einer anderen Wirklichkeit unwichtig. Auch die Nachricht, dass in der „alten“ Welt ein Staatsstreich im Gange ist, was der Mann über eine Zeitung erfährt, bleibt ohne direkte Bedeutung. Unmittelbarer trifft ihn die Erklärung der Frau, die gewinnsüchtige Gewerkschaft vermarkte mit der Dorfbevölkerung der einsamen Küstengegend den schlechten, weil salzhaltigen Sand als Baumaterial zum halben Preis. Diese gesellschaftskritische Note korrespondiert mit Kurosawas moralischer Absage an das individuelle Gewinnstreben unter Berücksichtigung des Allgemeinwohls in „Rotbart“. Wie heuchlerisch sich die Menschen verhalten, zeigen der unfreiwillige Frondienst des Lehrers und vor allem die fragwürdige Schaulust der Küstenbewohner.
Neben der vorzüglich komponierten inneren Spannung und Dramaturgie fasziniert Hiroshi Segawas exzellente Kameraarbeit. Das Objektiv kriecht, einem Insekt gleich, über den Sand, tastet, wie ein Mikroskop, die Feuchtigkeit, den Schweiß, die Poren der Haut ab. So finden die Abhängigkeit wie auch die Vereinigung von Mensch und Natur, die kaum eine Distanz zulassen, eine überzeugende visuelle Interpretation. Auch auf der Tonebene – helle, kristallige, avantgardistisch-bizarre Klangwelten wechseln sich mit Alltagsgeräuschen mal naturalistisch, mal verfremdend ab – werden immer wieder neue, sich öffnende Räume vorgestellt. Das Motiv der menschlichen Einsamkeit, die Aufgabe und gleichzeitige Rettung der individuellen Freiheit erinnern an den Zerfall der Wirklichkeit, an den Einfluss der Technik auf die Landschaft, auf die Seelenlandschaften in Michelangelo Antonionis „Die rote Wüste“ (fd 13 187). „Die Frau in den Dünen“ ist eine filmhistorische Wiederentdeckung, ein Meilenstein nicht nur des japanischen Kinos nach dem Zweiten Weltkrieg.
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