© Michael Heindl/Sixpackfilm („Surface Séance“)

Internationale Kurzfilmtage Oberhausen: Rückblick

Menschen reden, Filme verstehen: Ein Fazit der 70. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen

Veröffentlicht am
17. Mai 2024
Diskussion

Die Welt als Kaleidoskop konkurrierender Perspektiven: Während auf den Podien der 70. Kurzfilmtage Oberhausen die Sehnsucht nach einem neuen Universalismus laut wurde, der die Scherben der Partikularinteressen wieder zu einem großen Ganzen formt, liefen in den Kinosälen hemmungslos individualperspektivische Projekte. Ein Streifzug durch auseinanderstäubende Bildwelten.


Im Jahr 2007 zog die kolumbianische Bildhauerin Doris Salcedo einen Riss durch das Herz der Kunstwelt. Die Skulptur „Shibboleth“ war etwa 167 Meter lang und bestand aus einem langen Spalt im Boden der Turbinenhalle der Tate Gallery of Modern Art. Was an den Rändern als Haarriss beginnt, wächst zur massiven Kluft. Und was als visuelle Metapher gedacht war, hatte auch eine unmittelbare physische Wirkung: Fünfzehn Besucher verletzten sich im Rahmen der Ausstellung, etwa durch ungelenke Sprünge oder den Verlust des Gleichgewichts.

Diagnosen über die Spaltung der Gesellschaft oder die Fragmentierung der Öffentlichkeit sind in der Regel trivial – sie nehmen lediglich eine schon lange bestehende Heterogenität zur Kenntnis. In dieser Art von Gegenwartsbeschreibung liegt oft eine naive, restaurative Sehnsucht nach der Welt vor dem vermeintlichen Sündenfall. Sie sollte nicht zwangsläufig als Gesprächsangebot an Andersdenkende missverstanden werden, sondern als Maßreglung. Spalter sind immer die Anderen, Kulturkämpfer sind immer die Anderen und Identitätspolitik betreibt man auch nie selbst.


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Weniger als die Summe der Teile

Wenn die 70. Ausgabe der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen vom 1. bis zum 6. Mai 2024 von einer spürbaren Spaltung erfasst war, dann von der zwischen eher einseitigen Diskussionen auf der einen Seite und komplexen filmischen Positionen auf der anderen. Während im Lichtburg-Filmpalast die verschiedenen Kurzfilmprogramme liefen, wurde auf der anderen Straßenseite im Rahmen eines Podiums über den Zweck von Filmfestivals diskutiert. Dabei ging es mehr oder weniger offen auch immer um die etwa 2000 Filmschaffenden, welche die recht trotzige „Message to the international film community, regarding a recent statement from the director of Internationale Kurzfilmtage Oberhausen“ unterschrieben hatten. In der einführenden Tagung und den Podiumsdiskussionen wurden sie raunend zu diffusen Schattenmächten stilisiert, zum Elefanten im Raum, der immer am präsentesten war, wo man ihn ignorieren wollte.

Der Große Preis der Stadt Oberhausen ging an „Spring 23“ (© Whang Ziyi)
Der Große Preis der Stadt Oberhausen ging an „Spring 23“ (© Whang Ziyi)

Das wenig produktive Nebeneinander von Diskussion und Film bestimmte schon die Festivaleröffnung. Nach einer Art Buchvorstellung von Alexandra Schauers „Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung“ konnte man ein lautes Knirschen in der Gangschaltung hören, dann folgte eine kurze Präsentation des Programms „Sport im Film“. In einer Podiumsdiskussion einige Tage später sprach Festivalmacher Marco Müller von der Arithmetik der Festivals, die aus 1+1+1=3+n macht. Filme wachsen aneinander. Die verschiedenen Programmpunkte der Kurzfilmtage erwiesen sich jedoch als streng additive Parallelschaltungen, bei denen alles weniger als die Summe seiner Teile ergab.

Die Auftakt-Tagung „Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit“ am 1. Mai blieb weitestgehend frei von Widerspruch. Man konnte sich auf simple Feindbilder (die Cancel Culture, die „Woken“, die Identitätspolitischen et cetera) einigen, und führte dann intellektuelles Schattenboxen für das Publikum vor. Schaukämpfe mit vorbestimmtem Ausgang, wie sie in Oberhausen sonst eigentlich nur im März aufgeführt werden, wenn in der Turbinenhalle mit dem „wXw 16 Karat Gold“ das größte Wrestling-Turnier Europas stattfindet. Dabei wäre es zumindest diskussionswürdig, ob etwa das schon dem Namen nach etwas anmaßende Manifest „Pro Realität“ gänzlich unkritisch vorgestellt werden sollte.


Perfektes Abbild einer fragmentierten Wahrnehmung

Während auf Podien die Sehnsucht nach einem neuen Universalismus laut wurde, der die Scherben der Partikularinteressen wieder zu einem großen Ganzen formt, liefen in den Kinosälen hemmungslos individualperspektivische Projekte. Ein Kurzfilmfestival mit seinen mannigfaltigen Perspektiven scheint zunehmend als perfekte Abbildung einer fragmentierten Weltwahrnehmung. Wo sonst können wir innerhalb von wenigen Tagen Dutzende von Perspektiven einnehmen? Die Frage, wie weit man dabei wirklich vom kritisch beäugten Aufmerksamkeits-Hegemon TikTok entfernt ist, schien sich das Festival nicht zu stellen.

„Lodz“ von Abraham Ravett (© Abraham Ravett)
„Lodz“ von Abraham Ravett (© Abraham Ravett)

Das Kino jedoch interagiert mit der Gegenwart. Der Filmemacher Abraham Ravett präsentierte in Oberhausen nicht nur seine atemberaubenden Gedichte aus Stille und Bewegung, sondern berichtete auch, er würde heute statt mit seiner Bolex lieber mit dem Smartphone filmen. Das passt zu einer künstlerischen Geste, die gleich mehrere der gezeigten Filme vollführten: Wir sehen zuerst einen Menschen, der ein Video auf seinem Handy betrachtet, dann füllt das Bild auf dem Display plötzlich die gesamte Leinwand. Etwa in „No Horses on Mars“ von Bea de Visser, in dem eine Stute mit den modernen Wahrnehmungsinstrumenten des Menschen konfrontiert wird, die seit Muybridges Bewegungsstudien von Pferden erheblich weiterentwickelt wurden. Die Omnipräsenz des Abspielmediums Smartphone visualisiert in einem einfachen Umschnitt. Was heißt es, wenn die Leinwand für die meisten nur ein Bildschirm unter vielen ist?

In „fishing“ von Josie Charles wird ein Camcorder von einer jungen Frau bereits im Jahr 2006 wie die Handykamera einer Influencerin geführt. So erobern die allsehenden Glasaugen der Gegenwart auch die jüngere Vergangenheit. Eigentlich müsste ihre Proliferation längst unsere Vorstellung von Schauspiel verändert haben. Ähnlich ist es in „Girl’z in the Hood“, in dem Karim Akalay Mädchen aus einem Brüsseler Arbeiterviertel eine Kamera in die Hand drückte. Ihre Geschichte handelt dann vom Diebstahl einer Kamera, die nicht als Objekt der Selbstermächtigung interessant ist – ein Handy haben sie ja ohnehin schon – sondern nur noch als verkaufbarer Wertgegenstand. Michael Heindl zeigte in „Surface Séance“ Schlieren und Schmierflecken auf einer zunächst unbekannten Oberfläche, die sich später als U-Bahn-Fenster herausstellt. Doch bis dahin wirkt es, als würde die Kinoleinwand wie ein Touchpad eingesetzt. Auch der bedrückende, vor Leid zitternde „Pain“, in dem Ivan Faktor seine eigene Parkinson-Krankheit verarbeitete, endet mit der Berührung eines flackernden Bildschirms. Schon in Bergmans „Persona“ war die Leinwand auch ein Touchscreen.


Auseinanderstäubende Bildwelten

In seinem Buch „Shard Cinema“ erklärt der Filmwissenschaftler Evan Calder Williams Splitter von berstendem Glas, Partikelwolken, Pixelrauch und kristallinen Texturen zur Signatur des Kinos des 21. Jahrhunderts. Auseinanderstäubende Bildwelten, die von ihrer eigenen Zersplitterung erzählen. Einmal beschreibt er einen Freund, der mit den Fingern auch noch über das geborstene Smartphone-Display gleitet und sich so seine Finger blutig wischt. Schnitt-Stellen, Salcedos „Shibboleth“ auf einer neuen Oberfläche. Die Risse kommen näher.

„fishing“ (© Josie Charles)
„fishing“ (© Josie Charles)

Der unmittelbare Umschnitt vom Handydisplay auf das dort gezeigte Bild beschreibt auch einen Verlust von Distanz. Die Omnipräsenz von computergenerierten Bildern sollte alle Diskussionen um die Rezeption und Vermittlung von Ereignissen prägen. Williams beschreibt Bilder, die „wahrnehmen, ausstellen, damit ringen und von sich stoßen“ wie sie hergestellt werden. Digitale Bilder für eine digitalisierte Welt. Wo sie ständig berührt werden, wird noch einmal verdeutlicht, wie fließend der Übergang zwischen Mensch und Apparat geworden ist.


Die Podiumsdiskussionen hinkten der Zeit hinterher

Während die Filme also längst das neue technologische Dispositiv reflektieren, wirkten die Podiums-Diskussionen zunehmend folkloristisch. Als könnten sie die Welt nur mit großer Latenz wahrnehmen, Zoom-Gesprächspartner, die jede Nachricht zu spät erreicht. In einer Anmoderation zum internationalen Wettbewerb hieß es: „Selfie is now the new trend.“ Als wäre es 2013.

Und auf der Tagungsbühne wischte der Kunsttheoretiker Bazon Brock die Idee vom Anthropozän als menschliche Hybris fort, während die Filme schon das von Autoren wie Emanuele Giorgi, Oliver Schlaudt oder Hermínio Martins beschworene Folgezeitalter zeigten, das Technozän. Wenn selbstfahrende Landwirtschaftsfahrzeuge in „Lacuna“ von Shirley Yumeng He und Carlo Nasisse die Erde formen wie in einem Film von Nikolaus Geyrhalter, dann wurde der Mensch längst von seinen Werkzeugen überholt. Was bleibt von uns allen in der Hieronymus-Bosch-Render-Welt von Zhong Sus „The Separation of Heaven and Earth“, in der sich Tiere, Götter und Menschen in derselben digitalen Phantasmagorie verlieren? Es entstehen Bilder ohne jede Indexikalität. Auch im flirrenden „Another Day“ von Wang Danyang und Chen Yiquan ist das Humane nur noch ein Flackern im Zeichendschungel, kaum unterscheidbar von Emojis und AI-Stimmen. Interessant ist in dieser modernen Stadtsymphonie eine kurze Passage über die Augenübungen, die mittlerweile an den meisten weiterführenden Schulen in China verpflichtend sind. Selbst das Sehen muss neu gelernt werden.

„No Horses on Mars“ (© Bea de Visser)
„No Horses on Mars“ (© Bea de Visser)


Der Mensch als Mängelwesen

Der menschliche Körper zeigt sich in den Filmen des Festivals als fragil und vergänglich, der Mensch als Mängelwesen. Viele der Filme begleiteten Kranke und Sterbende, manche zeigten auch Trauerarbeit. „Lizzy“ von Susanna Wallin etwa ließ Licht in die Wohnung einer Verstorbenen brechen, als ihr Haus in Florida abgerissen wird. Ibrahim Omars verzweifelt schwarze Komödie „Nothing Happens After That“ erzählte von einem verstorbenen Kind, für das aufgrund von bürokratischen Barrieren keine Ruhestätte gefunden werden kann. In „O“ porträtierte Diana Vázquez ihren Vater, der nach einer Corona-Erkrankung und einem künstlichen Koma seinen Weg zurück ins Leben sucht. „Lacrimosa“ von Josef Dabernig zeigte Begräbniszeremonien, in „Decryption“ vollzieht Maya Zack eine künstlerische Erinnerungsbeschwörung ihrer verstorbenen Mutter.

Im mit dem Großen Preis der Stadt Oberhausen ausgezeichneten „Spring 23“ von Whang Ziyi erwächst aus der Verlusterfahrung eine Geste des Widerstands: Ein junger Mann macht sich nach der Beerdigung seiner Eltern auf den Weg, um eigentlich verbotene Feuerwerkskörper für das chinesische Frühlingsfest zu erwerben. Die gen Himmel steigenden Leuchtraketen am Ende des Kurzfilms gehören zu den wenigen triumphalen Bildern des Festivals. Sterbende Menschen und lebendige Tiere gaben den Filmen einen apokalyptischen Grundton. Auch auf dem Abschluss-Podium über die „Politisierung der Kultur“ ließ sich niemand so recht zu einem optimistischen Fazit hinreißen.

„The Separation of Heaven and Earth“ (© Zhong Su)
„The Separation of Heaven and Earth“ (© Zhong Su)


Alles wird zur Schnittstelle

Der schönste Satz des Festivals fiel dann ausgerechnet gegen Ende eines Films über Amateurschwimmer. Er klingt wie aus einem vergessenen Chanson und wirkt genauso wenig optimistisch, dafür aber hoffnungsvoll – eine wichtige Unterscheidung. „Es gibt keine Stadt ohne Meer“, erklärt ein braungebrannter Herr in „The Sea is a Stereo: Part 2, Paris Without a Sea“ von Mounira Al Solh. Und er ergänzt, manchmal müsse man eben Tausende von Kilometer dafür reisen. Wie bei Evan Calder Williams wird alles zur Schnittstelle, denn diese Perspektive macht die ganze Welt zur Küste und noch der Kern eines Kontinents wird zum Übergang zwischen Land und Wasser.

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