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Am richtigen Ort - Interview mit Hans Steinbichler

Ein Interview mit dem Regisseur Hans Steinbichler über seine Romanadaption „Ein ganzes Leben“

Veröffentlicht am
22. November 2023
Diskussion

„Diesen Film muss ich machen“, wusste Regisseur Hans Steinbichler sofort, als er den Roman „Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler gelesen hatte. Und das nicht nur, weil er mit dem Schriftsteller seit langer Zeit „verbandelt“ ist. Sondern weil das Buch alles vereint, was sein eigenes Leben bestimmt hat. Der Film ist Steinbichlers Vater gewidmet, „der mir die Berge geschenkt hat“. Eine Annäherung an den Film und den Filmemacher.


Was hat Sie an dem Roman von Robert Seethaler so sehr gereizt, dass Sie es unbedingt verfilmen wollten?

Hans Steinbichler: Ich habe eine lange Geschichte mit Robert Seethaler. Nach meinem Debütfilm „Winterreise“ kam die Produzentin Gabriela Sperl mit einem Drehbuch auf mich zu: „Der Zierfisch“. Autor: Robert Seethaler. Er war ein Schauspieler, der sich selbst in einer Rolle gesehen hat. Ich fand das Drehbuch außergewöhnlich und habe es dann mit Matthias Brandt und Monika Bleibtreu als Kinofilm realisiert. Leider lief der Film nur in Frankreich. Er hieß „Die zweite Frau“, und der Roman, den Seethaler dann später daraus entwickelt hat, trug den Titel „Die weiteren Aussichten“. Das ist jetzt 15 Jahre her. Seitdem war ich mit Seethaler verbandelt. Als dann „Ein ganzes Leben“ erschien, war klar: Diesen Film muss ich machen. Ich sage bewusst „muss“. Denn „Ein ganzes Leben“ vereint alles, was mein Leben ausmacht. Mein Vater kommt aus einer bäuerlichen Familie am Rande der Alpen. Was Seethaler beschreibt, mit all den Auswüchsen, habe ich aus der Welt meines Vaters mitbekommen. Ich kannte auch das ganze Drumherum. Im Film gibt es daher am Ende eine Widmung an meinen Vater: „...der mir die Berge geschenkt hat“, heißt es dort. So ist es auch gemeint.

Der Filmemacher Hans Steinbichler (imago/Heinz Weissfuss)
Der Filmemacher Hans Steinbichler (© imago/Heinz Weissfuss)

Das Drehbuch stammt aber nicht von Ihnen, sondern von Ulrich Limmer.

Steinbichler: Ulrich Limmer ist ein erfahrener Autor und Produzent. Er hat genau das richtige Alter, um dieses Buch zu schreiben. Er ist Mitte sechzig und kennt die Welt von „Ein ganzes Leben“. Vor allem hat er einen Kniff gefunden, diesen komplett retrospektiven Roman in eine gute Dramaturgie zu betten. Er hatte die Idee, die Briefe an Marie, die Erinnerung an sie, in Bögen zu spannen, die diesem Roman, der keine dramaturgische Entwicklung hat und nur im Kopf von Egger stattfindet, eine Gestalt gibt. Und damit eine Möglichkeit, ihn als Film zu erzählen.

Sie haben die Chronologie des Romans zu Beginn geändert. Warum?

Steinbichler: Der Roman bricht mit der Chronologie. Das Buch beginnt mit dem Hörnerhannes-Ereignis. Egger findet in einer Hütte einen alten Ziegenhirten, der dem Tod nahe ist. Er schnallt ihn auf eine Trage und bringt ihn ins Tal. Egger und der Hirte haben unterwegs ein philosophisches Gespräch. Sie sprechen über Liebe und Vergänglichkeit, den Tod und die Frauen. Wenn wir diese Szene im Film voranstellen würden, wäre das ein vollkommen falscher Auftakt. Was wir erzählen wollten, war die Sprachlosigkeit, mit der Egger aufwächst. Ich wollte, dass 25 Minuten kein Wort von Egger zu hören ist, weder vom Kind noch vom jungen Erwachsenen, der er zunächst ist. Das erste Wort kommt nach 25 Minuten, als er wieder einmal vom Bauern geschlagen werden soll. Da sagt er seinen ersten Satz: „Wenn Du mich schlagst, dann bring’ ich Dich um.“ Wir wollten den Film so erzählen, dass man sofort versteht, dass die Sprachlosigkeit von Egger sein größtes Merkmal ist.

Das Buch ist gar nicht so dick. Sie haben trotzdem einiges weglassen müssen.

Steinbichler: Der Roman fasst auf 150 Seiten ein Leben zusammen, das weit und riesig erscheint. Wie macht Seethaler das? Seine Kunst liegt in der Verknappung. Für den Film haben wir ganz bewusst nach Dingen gesucht, die die Leser am stärksten berüht haben, an die sie sich erinnern. Wir mussten natürlich verknappen. Es gibt im Roman beispielsweise die Russland-Episode während des Krieges. Die haben wir weggelassen, weil wir darüber nichts Neues hätten erzählen können.

Was Sie auch nur andeuten konnten, ist Eggers späte Arbeit als Touristenführer.

Steinbichler: Das ist in der Tat so. Wir haben diese Szenen nicht weggelassen, weil wir dachten, dass dafür keine Zeit und kein Raum sei. Das war das einzige Mal in diesem Roman, dass Seethaler Dialoge ersinnt und Situationen erfindet, die ich mit Eggers Charakter nicht zusammenbekomme. Ich kenne einen Satz von Seethaler, der mich nicht mehr losgelassen hat. „,Ein ganzes Leben’ hätte ich auch in einem Fischerdorf angehen lassen können. Ich habe nur die Berge gewählt, weil sie mir gerade eingefallen sind.“ Für mich ist das ganz anders. Für mich waren die Berge der Grund, diesen Film zu machen. Jede Empfindung, die ich dort beschrieben sah, war auch ein Blick in meine eigene Welt.

Am Set: Hans Steinbichler (l.) und Stefan Gorski (Tobis Film)
Am Set: Hans Steinbichler (l.) und Stefan Gorski (© Tobis Film)

In Deutschland gibt es ja eine lange Tradition des Bergfilms. In den 1920er- und 1930er-Jahren wurde darin die Natur gefeiert und die Macht der Berge betont, die etwas Schicksalhaftes haben. In den 1950er-Jahren kam noch der Heimatfilm hinzu, in dem es eher darum ging, die Kriegsfolgen zu vergessen und unbeschwerte Unterhaltung zu bieten. Der Bergfilm ist gewissermaßen ein urdeutsches Genre, das allerdings aus der Mode gekommen ist, wenn man von „Nordwand“ einmal absieht. Wo ist für Sie die Anbindung an dieses Genre?

Steinbichler: Der Bergfilm hat in Deutschland eine extrem schwierige Tradition. Er war vor allem ein Vehikel für die Nationalsozialisten, um Heroik zu demonstrieren. Das „Schlimme“ am deutschen Bergfilm ist zudem, dass er in den 1930er- und 1940er-Jahren von einer außergewöhnlich hohen Qualität war. Mein Kameramann Armin Franzen und ich haben uns beispielsweise intensiv mit der Bildsprache des Regisseurs Arnold Fanck auseinandergesetzt. In den eskapistischen 1950er- und 1960er-Jahren wurde im Bergfilm das vom Krieg zerstörte Deutschland dagegen weitgehend versteckt. Man hat nach Sets gesucht, die man nicht bauen musste. Man konnte „Heile Welt“ spielen. Aus diesem Nebel ragt unser Film heraus, weil wir die Berge nicht als Kulisse benutzen, sondern als grausam-unempathisches, einfach dastehendes Naturereignis, das gibt und nimmt. Die Idee von Wohlsein und entspanntem Wandern kam erst viel später in die Alpen.

Wie haben Sie das auf der Bildebene gelöst?

Steinbichler: Mir war es wichtig, dass in den Totalen die Gipfel leicht angeschnitten sind. Denn die Bewohner der Berge sehen nur selten nach oben. Sie wollen nur wissen, wann die Sonne aufgeht, ob es regnet oder eine Lawine heruntergeht. Ansonsten waren die Berge für die Bewohner damals zuallererst voller Gefahren. Sie standen für Entbehrung. In einer Kritik zu „Ein ganzes Leben“ schrieb jüngst jemand, dass der deutsche Film mehr Berge wagen sollte. Das trifft das Bedürfnis der Menschen nach Ruhe, nach Einfachheit und Flucht. Die Berge sind aber vor allem ein Sinnbild für das Streben nach Höherem und das Scheitern daran. In diesem Kontext wollte ich „Ein ganzes Leben“ verstanden wissen: als eine „Reise“, die jeder Mensch kennt und die jeder Mensch geht.

Ich würde gerne über eine Szene sprechen, die im Buch so nicht vorkommt. Der kleine Egger muss beim Bauern Kranzstocker allein an einem eigenen Tisch sitzen, nicht nur einmal, sondern die ganze Zeit. Das Bild ist klar: Egger ist von Beginn an ein Außenseiter.

Steinbichler: Ich habe mir vor einiger Zeit anhand meines Oeuvres überlegt, welche Menschen mich genuin interessieren. Und ich stellte fest: Es sind die Außenseiter. Ich sehe in Egger einen großen Außenseiter. Für mich gibt es kaum ein stärkeres Sinnbild fürs Außenseitertum als einen, der in einem dunklen Eck sitzt, hungert und zur Tafel hinschaut, wo der Bauer mit seinen Kindern und der Schwiegermutter sitzt und zu Mittag isst. Eggers Bewusstsein von sich selbst, auch später, ist ja, dass er den anderen Leuten beim Leben zusieht. Er selbst kommt da nicht hin, er schafft es nicht, er wird nie die Möglichkeiten dazu haben. Aber er muss eine Haltung dazu finden. Darum ist diese Szene so extrem wichtig für den Blick auf Egger.

Eine andere wichtige Szene ist, wenn der Kranzstocker den Buben so sehr verprügelt, dass er ihm das Bein bricht. Eine unerträgliche Szene, und doch hatte ich das Gefühl, dass der Film diese Untat moralisch gar nicht bewertet.

Steinbichler: Das ist Absicht. Im Roman wird Kranzstocker in harten Kontrasten beschrieben. Ich bin selbst in einem katholischen Dorf als Ministrant am Rande der Alpen aufgewachsen. Ich habe diese Grausamkeiten schlicht als das wahrgenommen, was sie sind. Und sie nicht hinterfragt. Es ist, wie es ist. Das habe ich auf dem Dorf gelernt. Deswegen habe ich die Rolle von Kranzstocker mit Andreas Lust besetzt, von dem ich unglaublich viel halte. Er schlägt den Jungen und bittet gleichzeitig: „Herrgott, verzeih!“ Er schlägt und tut Gutes, er schlägt und beichtet. Und ihm wird verziehen. Das Prinzip heißt: Sündige und beichte und sei dann „gereinigt“. Dieses Prinzip ist ja nicht billig oder wohlfeil, es ist etwas, mit dem wir auf dem Land aufgewachsen sind. Deswegen habe ich Kranzstocker auch nicht verurteilt, sondern in ihm eine Person gezeichnet, bei der man nachdenkt, wie es dem wohl selbst als Kind ergangen ist. Es gibt einen Grund, wieso Kranzstocker den jungen Andreas Egger misshandelt.

Ivan Gustafik als kleiner Heinz Egger (Tobis Film)
Ivan Gustavik als kleiner Andreas Egger (© Tobis Film)

Wie haben Sie die anderen Darsteller gefunden?

Steinbichler: Mir war von vornherein klar: Egger muss von jemanden gespielt werden, den noch niemand kennt. Ich hatte den Produzenten daher vorgeschlagen, nach einem österreichischen Theaterschauspieler zu suchen. Über die Casterin Nicole Schmied sind wir dann auf Stefan Gorski gestoßen. Ich wollte, dass die Leser des Romans die Möglichkeit bekommen, ihr Egger-Bild in ihn zu projizieren. Deswegen habe ich nach einem Mann gesucht, der in seiner Art und Physiognomie nicht außergewöhnlich ist. Stefan Gorski hat ein Gesicht, in das man sich „hineinlegen“ kann, in dem man sich „ausruhen“ will. Er ist zudem extrem wandelbar. Das war unsere allererste Entscheidung. Davon abgeleitet kam der kleine Ivan Gustavik zu uns, der Sohn einer Ukrainerin, die in Wien lebt und ihn einfach zu einem Kinder-Casting geschickt hat. Ich war sehr beeindruckt von seiner Art, die Welt in den Blick zu nehmen und diesen Blick zu halten. Das können nur sehr wenige Kinder. Bei August Zirner haben wir nicht nach physiognomischen Ähnlichkeiten gesucht. Wir haben Schauspieler gecastet und Empfindungen geteilt, wie man die beiden Eggers im Verhältnis zueinander empfindet: den Gorski-Egger zum Zirner-Egger. Wir kamen zu dem Schluss: Gorski und Zirner sind seelenverwandt, sie sind Egger.

Es geht in „Ein ganzes Leben“ auch um Veränderung, um Wohlstand. Irgendwann kommt das elektrische Licht, später dann die Seilbahn und mit der Seilbahn auch der Tourismus und das Skifahren.

Steinbichler: Für mich geht es in dem Film um zwei Ebenen. Es gibt zum einen eine Figur, die sich für mich nicht verändert. Sie sieht den Dingen zu, nimmt sie als ein Gleiches an, sei es Schicksal, sei es ein Glück. Dieser Ebene haben wir den großen Bogen der Erschließung der Alpen gegenübergestellt. Egger tut unhinterfragt die Dinge, die ihm aufgetragen werden, sei es in den Krieg zu ziehen, sei es eine Seilbahn zu bauen. Oder – nach seiner schweren Verletzung – oben auf der Seilbahn zu stehen und dort seine Arbeit zu verrichten. Er tut es einfach. Er reflektiert nicht. Mit diesem Zutun zum Fortschritt und zur Entwicklung bestimmt er auch sein eigenes Schicksal. Es wird ja die Frage gestellt, ob die Lawine, die abgeht und Marie tötet, von einer Sprengung ausgelöst wurde. Egger ist einer dieser Menschen, ein früher Sklave unserer modernen Gesellschaft, die einfach eingespannt werden, ihr Leben lang arbeiten und gar nicht wissen, was sie da in einem größeren Zusammenhang eigentlich ausführen. Egger sitzt eines Tages mit Marie auf der gemeinsamen Hütte, schüttelt sich vor Lachen und sagt: „Stell dir vor: Wir bauen jetzt Bahnen, wo die Menschen mit angeschnallten Skiern in Sesseln den Berg hinauffahren.“ Er nimmt wahr, was er herstellt, kann es aber nicht in einen Kontext stellen. Er ist nur der Arbeiter, der es ausführt.

Ich habe die beiden Erzählebenen auch so verstanden, dass man sich gegen die Macht der Natur nicht wehren kann.

Steinbichler: Nach dem Tod von Marie spricht der Prokurist der Seilbahn mit Egger: „Es tut mir leid wegen deiner Frau, aber komm jetzt nicht und behaupte, die Sprengungen waren schuld.“ Es gibt die Verquickung dieser Ebenen, und natürlich nimmt Egger den „Raub“ seiner Frau durch die Natur als etwas Unhinterfragtes an. Diese Haltung lässt ihn schließlich auch überleben.

In einer der letzten Szenen nimmt Egger den Bus und fährt bis zur Endstation, um aber unverrichteter Dinge wieder zurückzufahren. Ist er die ganze Zeit über immer am richtigen Ort gewesen?

Steinbichler: Die Figur Egger besitzt für mich ein wichtiges Charakteristikum. Egger hatte nie die Möglichkeit, seinen Ort zu verändern. Die einzige Option war es, auf eine „Baustelle“ im übernächsten Tal zu kommen. Am Ende seines Lebens bekommt Egger Panik und glaubt, dass er jetzt woandershin müsse. Es ist faszinierend, dass jemand in einen Bus steigt und denkt, dass die Fahrt ihn über das hinausbringen könnte, was er jemals erlebt hat. Oben angekommen spürt Egger aber: Da, wo er eingestiegen ist, ist sein richtiger Platz. Das ist ein fantastisches Bild und ein utopischer Gedanke: Wenn wir als Mensch die Fähigkeit hätten, einfach sitzen zu bleiben – dann wäre die Welt eine andere.


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