Was sucht die Theologin im Kino?

Merkwürdige Überlegungen auf einem schmalen Grat zwischen Kitsch und Kunst, Unterhaltung und Kultur, Siegfried Kracauer und Hans Urs von Balthasar

Veröffentlicht am
02. April 2020
Diskussion

„Was im Kino gerettet wird, wenn ihm Kunst gelingt, ist eine spontane Verbundenheit mit der gesamten Menschheit. Es ist keine Kunst der Fürsten oder der Bourgeoisie. Es ist volkstümlich und vagabundierend. Im Kinohimmel erfahren die Menschen, was sie hätten sein können, und entdecken, was über ihr einzelnes Leben hinaus ihnen gehört. Das eigentliche Thema des Kinos – in unserem Jahrhundert des Verschwindens – ist die Seele, der es eine globale Zuflucht bietet. Das, so glaube ich, ist der Schlüssel zu seiner Sehnsucht und seiner Anziehungskraft.” (John Berger)


Alle schauen Filme, wenn auch kaum mehr im Kino, sondern, je jünger desto wahrscheinlicher auf kleineren „devices“ und in der Mehrzahl bei Youtube oder den aktuellen Video-on-Demand-Plattformen Amazon Prime, Netflix oder demnächst Disney+. Obwohl wir uns rühmen, einer europäischen Schriftkultur anzugehören, hat sich das Aufnehmen und Verarbeiten eines (Film-)Bildes inzwischen zu einer der wesentlichsten Kulturtechniken entwickelt. Vermutlich lernen Kinder (Film-)Bilder zu verstehen, ehe sie Worte oder gar geschriebene Texte verstehen. Die Intensität der Prägekraft und Auseinandersetzung, die ein im Kino oder auf einem großen Bildschirm mit guter Tonqualität betrachteter Spielfilm auslöst, ist nicht zu unterschätzen. Was mit dem „Supermedium Audiovision“ gemeint ist, versteht sich nach all den Medienwechseln der letzten Jahrzehnte von selbst.

Was aber verbindet Theologie, also eine wissenschaftliche Theorie, die sich primär mit dem Jenseitigen, Transzendenten, also mit Gott, beschäftigt, mit dem Film?

Was macht den Film kulturrelevant?

Versuche einer theoretischen Fassung des Mediums Film und damit seine Adelung als kulturrelevant gehen bis zum Beginn der 20. Jahrhunderts zurück. Während Walter Benjamin den Film in erster Linie als Medium nationalsozialistischer Propaganda betrachtete, hat Rudolf Arnheimden (Stumm-)Film 1932 affirmativ als Kunstwerk beschrieben. Arnheim stellte, ganz im Sinne des Expressionismus, den Voraussetzungsreichtum des filmischen Bildes und seine große „raum-zeitliche Selbständigkeit gegenüber der Wirklichkeit“ in den Vordergrund und bezeichnete damit gerade die organisierte „Distanzierung des Filmbildes von der Realität“als Ausweis für seinen Status als Kunstwerk.

Siegfried Kracauer (1889-1966), der in die USA emigrierte Theoretiker des europäischen Neorealismus, erwartete unter allen Künsten gerade vom Kino den authentischsten Zugang zur Realität: „Das Kino kann als ein Medium definiert werden, das besonders dazu befähigt ist, die Errettung physischer Realität zu fördern. Seine Bilder gestatten uns zum ersten Mal, die Objekte und Geschehnisse, die den Fluss des materiellen Lebens ausmachen, mit uns fortzutragen.“

In diesem dialektischen Konflikt zwischen Expressionismus und Realismus erkannte der US-amerikanische Filmwissenschaftler James Monaco den paradigmatischen Grundkonflikt einer Theorie der Filmproduktion und -rezeption. Die bis heute andauernde Auseinandersetzung um den Status vor allem des populären Filmes ist in einer Linie mit diesem Gegenüber von Herausforderung und Überwältigung des Betrachters zu sehen.

"Opfer" von Andrej Tarkowski
"Opfer" von Andrej Tarkowski

Kracauer ist auch der erste Filmtheoretiker, in dessen Werk sich die Frage nach einer ethischen, ja bisweilen religiösen Dimension des ambitionierten Spielfilms entwickelt, allerdings im Gegensatz zu Benjamin in affirmativer Weise: Das Kino erschließt dem Zuschauer die Welt, in der er lebt, „es bringt uns Auge in Auge mit Dingen, die wir fürchten. Und es nötigt uns oft, die realen Ereignisse, die es zeigt, mit den Ideen zu konfrontieren, die wir uns von ihnen gemacht haben.“ Dies geschieht in ausdrücklicher Abgrenzung vom angeblichen Idealismus der herkömmlichen Künste.

Der Film lässt sich nicht denken, nur wahrnehmen

Was sich dem Zuschauer als (Spiel-)Film präsentiert, ist ein Seh- und Hörsinn, Einbildungskraft und Vernunft in umfassender Weise beanspruchendes Gesamtwerk, eine eigenständige, nur mit filmischen Mitteln rekonstruierbare audiovisuelle Einheit. Der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty setzte den Film 1945 in Bezug zur Phänomenologie: „Beide sprechen nicht mit einem abgetrennten Verstand, sondern wenden sich an unsere Fähigkeit, die Welt oder die Menschen stillschweigend zu entziffern und mit ihnen zu koexistieren. [...] Das kinematographische Drama hat gewissermaßen einen dichteren Kern als die Dramen des wirklichen Lebens, es ereignet sich in einer exakteren als der wirklichen Welt. Es ist kurz gesagt die Wahrnehmung, die uns die Bedeutung des Kinos verstehen lässt: Der Film lässt sich nicht denken, er lässt sich wahrnehmen.“

Der Film könnte sich der Theologin also als eine Erscheinung erschließen, die „eine kognitive und emotionale Mitarbeit“ einfordert. Die konstitutive Rolle des Zuschauers wurde allerdings erst durch die neoformalistische Filmanalyse entdeckt. Jede(r) sieht einen anderen Film; in einer Unzahl singulärer Wahrnehmungsereignisse ersteht das filmische Kunstwerk, jedes Mal in neuen Kontexten und Voraussetzungen der Wahrnehmung.

Anders als in der psychoanalytischen Filminterpretation, die von einem eher passiven Ausgeliefertsein des Rezipienten an die unbewusst wirkenden Bilder ausgeht, müsste also zwischen bewussten, unbewusstenund vorbewusstenWahrnehmungsprozessen unterschieden werden. Der Zuschauer entwickelt komplexere Sinnzusammenhänge, angestoßen von den Hinweisen des Autors und vor der Folie eigener Verstehenshintergründe, und ist so auch in der Lage, sich zu Machart und Inhalt eines Films in kritische Distanz zu begeben, sich in einem Bewusstwerdungsprozess seiner eigenen, auch unbewussten, Reaktionen bewusst zu werden.

Film und theologisches Verstehen

Festzuhalten ist der Begriff der „erschwerten Form“, der darauf verweist, dass eine allgemeine Theorie des Verstehens mindestens ebenso sehr im (bewusstgewordenen) Nichtverstehen wie im Verstehen liegt. Erst wenn ein unmittelbares „Verstehen“ der Filmhandlung, ihrer Zeitebenen, des ästhetischen Konzeptes etc. also nicht sofort gelingt, weil es vom Autor (oder vom Betrachter) des Films verweigert oder durch zu große transkulturelle Unterschiede zwischen Autor und Rezipient verhindert wird, setzt im besten Fall – eventuell nach einem Gefühl des Widerwillens und der Unlust – ein Prozess der Reflexion auf die Struktur des Gesehenen und Gehörten und auf die eigenen Muster der Rezeption ein. Ein durch solche Irritation angestoßener „Lernprozess“ kann in der Praxis durch Gespräche oder nachgehende Recherchen vertieft werden.

"Breaking the Waves" von Lars von Trier
"Breaking the Waves" von Lars von Trier

So könnte nicht nur eine allgemeine Theorie des Filmverstehens gefasst werden,sondern auch eine Kriteriologiezur Unterscheidung von Filmen unterschiedlicher künstlerischen Valenz. Neben dem unmittelbaren Einleuchtenfilmischen Geschehens lassen sich auf diese Weise graduelle Unterschiede ausmachen, inwieweit bestehende Wahrnehmungsmuster in Frage gestellt oder gar – als eine Art Bildersturm oder „cineastische Negative Theologie“ – zerstört werden. Mit Hilfe dieser Struktur lässt sich ein Film als Kunstwerk (Autorenfilm) oder eben (wenn nichts in Frage gestellt wird) als populären oder Mainstreamfilm beschreiben.

Öffnet man hier einen soziokulturellen Horizont, kommt auch erstmals die Theologie ins Spiel: Wenn es im Film nämlich nicht um eine bloße Bestätigung des Status Quo letztlich ungerechter ökonomischer, politischer und sozialer Verhältnisse geht, sondern diese in ihrer menschenverachtenden Struktur bloßgestellt, auf ihre Weiterentwicklung hin befragt und – eventuell auch gegen die Intentionen des Autors – „prophetisch“ dekonstruiert werden, wird der Film theologisch anschlussfähig.

Die Gefahr der Überwältigung

Im häufigeren (und leider auch erfolgreicheren Fall) erliegt der Film aber der Versuchung, den Zuschauer durch den geballten Einsatz optischer und akustischer Reize sowie einliniger Erzählstränge und den Einsatz einer „verblüffenden“ Technik als kritisch-aktiven Teilnehmer am Wahrnehmungsgeschehen entmündigen zu wollen. Dieses Potenzial im Dienste von Ideologien haben Filmemacher schon früh erkannt. Sie haben den Film für sozialistische wie für kapitalistische Systeme bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts dienstbar gemacht. Man vergleiche etwa die Entwicklung der Montage bei Sergej Eisenstein und die Entwicklung der Unterhaltung als politisches Instrument im Hollywood-Kino.

Um nicht selbst zum Produkt zu werden, bleibt dem kritischen Zuschauer letztlich nur der Rückzug auf eine kritische Distanz, die den Film als Produkt bestimmter politischer oder ökonomischer Interesses entlarvt und sich seinen Überwältigungsstrategien durch Verweigerung entzieht, wie dies beispielsweise Theodor W. Adorno und nach ihm viele linke wie rechte „kulturaffine“ Bürgerinnen und Bürger getan haben.

Für eine nicht in diesem Sinne kulturpessimistische theologische Interpretation gilt auf jeden Fall: Die Einzigartigkeit auch des filmischen Kunstwerks verlangt einen singulären Zugang, eine Analyse seiner je spezifischen Sprache.

Film und christliche Bildtradition

Anders als radikal bilderkritische Traditionen wie das Judentum oder der Islam katalysierte die inkarnatorische Tradition des christlichen Westens seit der Entscheidung des Bilderstreites im 9. Jahrhundert eine Offenheit für die Darstellung von Gott, Welt und Mensch im Bild, ohne einer unkritischen Bilderverehrung anheimzufallen. Noch das spätmoderne Kino folgt in gewisser Weise den Spuren der christlichen Ikonografie und erbt von ihr ein bestimmtes Verhältnis zur Theologie.

"Der Himmel über Berlin" von Wim Wenders
"Der Himmel über Berlin" von Wim Wenders

Mit der Entwicklung der kinematografischen Technik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kommt die Faszination christlicher Religion als Lust am Staunen, später als Fähigkeit, sich das Heilige als Mirakulös-Extraordinäres vorzustellen, in die säkulare Welt des Films zurück. Primitive Tricktechniken, die bereits in der Geburtsstunde des Kinos verfügbar waren, schienen in besonderer Weise zur Darstellung des Wunderbaren geeignet. Auch die Lokalität des Kinoraumes weist an Analogien zu liturgisch-rituellen Praktiken auf: Wie in der Liturgie konzentrieren sich alle Sinne einer Gruppe von Menschen auf einen bestimmten Ort, hier: die Leinwand.

Dieses Geschehen vollzieht sich in einem geheimnisvoll abgedunkelten Raum. Der Kinogang wird oft als aus dem Alltag herausgehobenes Ereignis empfunden, von dem eine Erregung der Sinne, später zunehmend auch Sinndeutung erwartet wird. Zu Recht wird das Kino als Ort einer neuen Sprache gefeiert, nachdem das gesprochene und geschriebene Wort seine „beschwörende und verzaubernde Dimension“ (Andrej Tarkowski) verloren habe. Hier entsteht für die Religionen einerseits Konkurrenz, andererseits aber auch eine neue Möglichkeit der Kommunikation ihrer biblisch-narrativen und ethischen Inhalte.

Film als Ort theologischer Reflexion

Mit dem Theologen Hans Urs von Balthasar, der Literatur als solchefür theologisch relevant hielt, darf man also auch für den Film, ja vielleicht für ihn in besonderem Maße ein „Datum der christlichen Wahrnehmungspflicht“ reklamieren, wie es in 1 Thess. 5,21 („Prüft alles, das Gute aber behaltet“) festgehalten wurde: „Auch das Gottesbild hat seinen Stil, und der Christ müßte ihn erkennen und sich in ihm auszudrücken wissen. Und dies nicht eigentlich von außen, diplomatisch und apologetisch, sondern von innen: als Kind dieser Zeit.“

In ähnlichem Sinne sind die Aussagen der Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils zu verstehen: Theologie, die sich mit Filmen beschäftigt, stößt auf eine hochkomplexe Zeitdiagnose, auf „Zeichen der Zeit“. Je nachdem, ob es sich um Autorenfilme handelt, auf eher kritische Signale, die auch die Theologie als solche herausfordern, oder im Mainstreamkino auf einen Spiegel zeitgenössischer Sehnsüchte, Ängste und Sorgen.

Überlegungen zum Ikonoklasmus im (Kino-)Bild und zur Eigenständigkeit des Zuschauers könnten den vom Medientheoretiker Hans Belting zu Recht für die Neuzeit diagnostizierten (und beklagten) „gräßlichen Graben“ zwischen bildender Kunst und theologischer Reflexion überbrücken. Dies wird dann möglich, wenn Komplexität, Deutungsoffenheit und Autonomie sowohl auf Seiten des Films wie auch auf Seiten des Rezipienten nicht nur als Kriterium künstlerischen Schaffens im engeren Sinne, sondern auch als Voraussetzung angenommen wird, Kernelemente der christlichen Botschaft darzustellen.

In der Tradition des biblischen Bilderverbotes kann der Schrei Jesu am Kreuz nur als Durchkreuzung gängiger phantasmatischer Gottesbilder, quasi als Ikonoklasmus, und die Nachfolge Christi als erst durch den eigenen Tod beendeter Prozess einer je neuen Begegnung mit der Welt und anderen Menschen verstanden werden, die immer wieder eine radikale Infragestellung der eigenen Perspektive auf Welt, Gott und Menschen impliziert.

Wie gehen religiöse Inhalte im Film auf?

Der Film hat sich von seinen Anfängen an der Wiedergabe biblischer Erzählungen und religiöser Motive angenommen. Mitte des 20. Jahrhunderts setzte eine kritische Reflexion über die Darstellung von Erhabenheit mit den die Alltagswahrnehmung überschreitenden Mitteln des Films ein.

"Große Vögel, kleine Vögel" von Pier Paolo Pasolini
"Große Vögel, kleine Vögel" von Pier Paolo Pasolini

Franz Everschor hat 1975 in seinem Text „Die Darstellung religiöser Inhalte im Film“ („Stimmen der Zeit“. Nr. 100) den „Kontrast zwischen dem dynamisch Vorwärtsdrängenden, auf Bewegung und Entwicklung Ausgerichteten des Films und dem Bewegungslosen, dem unveränderlich Gültigen“ als Grundproblem der Darstellung des Religiösen im Film ausgemacht. Er geht so weit zu behaupten, dass zwischen dem Unterhaltungswert eines Films und der Abstraktion, dem „Unfilmischen“ der Theologie, kaum etwas anderes als ein – fauler – Kompromiss möglich sei. Im Folgenden weist er darauf hin, dass die Bibel- und Christusdarstellungen Hollywoods bis Ende der 1950-Jahre diese Ungleichzeitigkeit bestätigen, ja dass die Angleichung der biblischen Charaktere an hollywoodeske Figurenschemata zur Entstellung der biblischen Botschaft und damit zum breiten Protest kirchlicher Medienkommissionen gegen eine Verfilmung biblischer Themen geführt habe. Gleichzeitig wäre mit Everschor aber auch festzuhalten, dass etwa Pasolinis „Das 1. Evangelium – Matthäus“ (Italien 1964) durch seinen formalen Reduktionismus einen wesentlichen Gesinnungswandel auslöste – in Everschors Augen der bis dato einzige Film, „der im Genre des Bibelfilms der Veräußerlichung entgeht und trotzdem den Vorwurf des Unfilmischen nur in wenigen Partien auf sich gezogen hat“. Everschor kommt in seinen Überlegungen zu einer auch für unseren Zugriff auf das Thema wesentlichen Aussage, weil sie die grundsätzliche Möglichkeit einer adäquaten Aufnahme christlicher Themen auch jenseits des Bibelfilmskonstatiert: „Nicht das Vorhandensein einer biblischen Figur macht den religiösen Film aus, sondern der ernsthafte Wille und die künstlerische Fähigkeit eines Autors, die Selbstverwirklichung des Menschen und seinen Bezug zum Transzendenten darzustellen“.

Es ist in diesem Zusammenhang auch zu berücksichtigen, dass die im Genre des „biblischen“ oder „Jesusfilms“ angestrebte formale Erbaulichkeit, gepaart mit der emotionalisierenden Wucht der biblischen Inhalte, zwar unmittelbar überwältigend wirken kann, weil dem Betrachter kaum Deutungsalternativen bleiben, der gewünschte Effekt aber keineswegs bei jedem Betrachter erzielt wird. Insbesondere der Jesusfilm ruft, wo er gezielt als Medium der Erbauung eingesetzt wird, beim kritischen Zuschauer eher Ablehnung hervor. So formulierte der Theologe Reinhold Zwick im Anschluss an die Überlegungen Kracauers zu einer „fabrizierten Evidenz“: „Dies gilt besonders dann, wenn dieser Plot im Gestus historisch ‚getreuer‘ Rekonstruktion inszeniert ist, wenn also die ‚Wahrheit‘ auf der Ebene des Realgeschichtlichen zum flankierenden Beweis für die Wirklichkeit des Transzendenten herhalten soll. [...] Wer dergestalt auf die Suggestivkraft der Bilder setzt, wird selbst bei einem wohlwollenden, nur eben deshalb nicht völlig unkritischen Publikum am Ende nur ein gesteigertes Mißtrauen ernten; und das nicht nur gegenüber den Bildern, sondern leider oft auch gegenüber der Sache selbst, die man eigentlich befördern wollte.“

Folgt der religiöse Film angesichts seiner oftmals „sensationellen“ und formal fiktiven Themen (Jenseits, Wunder, Apokalypse) dem bewährten Darstellungsmuster, so kann er sich kaum der Versuchung entziehen, die Überwältigungsmechanismen des Mediums zu bedienen. Damit beschneidet er aber heteronom die Freiheit des Zuschauers, sich zum Gesehenen und Gehörten noch einmal zu verhalten, sich auf Distanz zu bringen und eine rationale Reflexion etwa verschiedener Deutungsebenen und -möglichkeiten zu leisten.

Die Suche nach dem christlichen Film

Theologie, der es um eine adäquate Diagnoseder Bedingungen ihrer Verkündigung zu tun ist, sollte also ein waches Auge auf jene Leinwandgeschichten haben, von denen eine Mehrzahl ihrer Adressaten nicht nur Unterhaltung, sondern auch Anregungen und Deutungen für die eigene Lebensgestaltung erwarten. Eine beträchtliche Zahl zeitgenössischer Filme thematisiert zudem explizit oder implizit religiöse Fragen und macht damit von sich ausbereits ein Dialogangebot.

Nach dem christlichen Film müsste aus den genannten Gründen eher jenseitsbiblischer Kontexte, also jenseits des Genres des Bibel- oder Jesusfilmes gesucht werden. Hier lauert keineswegs die Wüste säkular geprägter Ignoranz für religiöse Inhalte. Oftmals stößt man sogar auf ein ausgeprägtes Interesse der AutorInnen für religiöse/biblische Themen und speziell für die Person Jesu, auch wenn dieses meist „transfigurativ“, also jenseits augenscheinlich biblischer Narrative umgesetzt wird und sich damit einem unmittelbaren Zugang verweigert.

"Stellet Licht" von Carlos Reygadas
"Stellet Licht" von Carlos Reygadas

Der US-amerikanische Regisseur Paul Schrader hat in seinem Frühwerk „Transcendental Style in Film. Ozu, Bresson, Dreyer“ mit der Betonung des „Stils“ eine dem Ecoschen „Code“ kompatible Zugangsweise zum Transzendenten im Film gefunden: „Transcendental Style uses precise temporal means – camera angles, dialogue, editing – for predetermined transcendental ends. [...] Transcendental style is not a vague label like ‚religious film‘ [...] it is only necessarily a style.“ Als „transzendent“ versteht Schrader (auf den Spuren des Religionswissenschaftlers Mircea Eliade) eine Region jenseits der Immanenz, in der sich das Heilige in der „Hierophanie“ (einer Aufscheinung im Profanen) zeige. Schrader bleibt sich jedoch der Unmöglichkeit einer endgültigen Darstellung dieses Jenseits und der kulturellen Bedingtheit seiner Darstellung bewusst: „Art expresses the Transcendent in the human mirror“. Schrader bietet also scheinbar einen Zugang, der die pseudorealistische Darstellung wunderbarer Ereignisse, wie etwa die Übergabe der Zehn Gebote an Moses in Cecil B. De Milleoder die Darstellung jesuanischer Wunder in Jesusfilmen zu Recht als „ridiculous“ und „not due to divine intervention“ charakterisieren kann.

Abgesehen von den historischen Unschärfen, die sich bereits in der Deskription einhandelt, wer von einem transkulturellen Heiligen sprechen will, ist an Schraders Ansatz unter religionsgeschichtlicher und philosophischer Perspektive die Verwischung der Unterschiede zwischen den unterschiedlichen religionsgeschichtlichen Herkünften der Filmkünstlern zu kritisieren. Eine dezidierte Kenntnis ihres kulturellen und religiösen Umfeldes ist unerlässlich, um spezifische formale und inhaltliche Eigenschaften ihrer Filme sowie die Adäquatheit ihrer Darstellung des Heiligen zu beschreiben und zu beurteilen, wie Schrader dies tut. Entscheidend ist jedoch, dass sich mit Schraders Konzept der von ihm angezielte transzendente (genauer: ikonische) Stil vom primitiven wie vom neuzeitlich-realistischen Formen abgrenzen lässt.

Kein bruchloser Anschluss an die christliche Tradition

In zeitgenössischen theologischen Konzepten der Filmrezeption werden oft – explizit oder implizit – weit zurückreichende Auseinandersetzungen um die „Aisthesis“ ausgetragen. Weder die Vorstellung einer einfachen Repräsentation eines nichtmaterialen (heiligen) Urbildes im (Film-)Kunstwerk noch die aristotelische Zusammenschau von Wahrem, Schönem und Gutem berücksichtigen jedoch die Autonomie des Rezipienten. Allein eine Integration des Zuschauers, der sich in einem unvertretbaren Dialog mit dem Spielfilm zu diesem noch einmal frei verhält, vermeidet solche insgeheim paternalistischen Konzeptionen. Ein bruchloser Anschluss an die christliche Tradition, der diese entscheidende hermeneutische Komponente nicht berücksichtigt, wird weder den zeitgenössischen Kunstwerken noch der neueren Theoriebildung gerecht.

Soll explizit von einer christlich rezipierbaren Filmkunst die Rede sein, so ergibt sich über die genannten allgemeinen und ästhetisch zentralen Bedingungen hinaus die Notwendigkeit, dass in einer theologischen Reflexion auf die fundamentale(n) Botschaft(en) des christlichen Glaubens Kriterien für die Darstellung christlicher Inhalte entwickelt werden.

Dabei dürfte sich zeigen, dass ein Film, der augenscheinlich raum-zeitliche Gegebenheiten des ursprünglichen (biblischen) Entstehungskontextes verlässt, durchaus in der Lage sein kann, die Sinnspitze des biblischen Geschehens zu erfassen und unter aktuellen Bedingungen neu lesbar zu machen. Damit käme dem Film eine dem Kommentaranaloge Funktion zu, insofern er die ursprünglichen Texte nicht ersetzt, sondern eine je einmalige Transformation wesentlicher Gehalte in zeitgenössische Verstehenszusammenhänge leistet.

"Heaven" von Tom Tykwer
"Heaven" von Tom Tykwer

Nur wenn dem Kommentar die größtmögliche Eigenständigkeit gegenüber dem Urtext zugesprochen wird, kann allerdings die Autonomie des Films als Kunstwerk bewahrt und sein Verkommen zu einem didaktischen Instrumentarium verhindert werden, das trotz aller formalen Originalität in der Vermittlung eines auch anderswo identisch auffindbaren „Inhalts“ aufgeht. Die zur „Übertragung“ religiöser Inhalte in andere (zeitgenössische) Kontexte aufgewandte Arbeit lässt dagegen eine Auseinandersetzung des Autors mit den Inhalten gerade wahrscheinlicher werden, weil die hermeneutischen Fragen ihre kritische Reflexion zwangsläufig erfordert.

Der Film als kritischer Gesprächspartner der Theologie

Erst vor dem Hintergrund dieser Überlegungen scheint es möglich, aufgrund bestimmter Codes beziehungsweise eines bestimmten Stils, der vom Regisseur und Drehbuchautor eines Filmes gewählt wird, von einem christlichen Film zu sprechen. Die Möglichkeiten des (Autoren-)Films, mit dramaturgischen, optischen und akustischen Elementen zu experimentieren und auf diesem Weg die innere Logik etwa der Vorstellungen von Erlösung, Liebe oder einem endzeitlichen Gericht und seiner ethischen und anthropologischen Implikationen auszuloten, ohne auf den Massenkonsum zu schielen, erlaubt es aber grundsätzlich, im Film einen privilegierten, wenn auch kritischen Gesprächspartner der Theologie zu suchen.

Die von Medientheoretikern häufig geäußerte Kritik an der Vereinnahmung des Films für theologische oder kirchliche Interessen muss berücksichtigt werden. Eine ausgearbeitete Filmtheorie, die religiöse Fragestellungen bewusst miteinbezieht, nicht nur narrative, sondern auch formale Aspekte des Films berücksichtigt und sich selbst durch klare Kriterien Zügel anlegt, dürfte dieser Gefahr der Vereinnahmung am ehesten entgehen. In manchen Fällen kann sie dem Film womöglich sogar eher gerecht werden, als Interpretationen, die sich selbst den Zwang zu „rein säkularen“ Analysen auferlegt haben.


Fotos: Fox, absolutMEDIEN, StudioCanal, Filmgalerie 451, Peripher, X Verleih

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