Was ist Wahrheit? Gibt es eine Offenbarung? Und wenn ja, wie kann sie in der Vielfalt der Welt überhaupt eindeutig wahrgenommen werden? Der französische Regisseur Xavier Giannoli erzählt in „Die Erscheinung“ von einer jungen Frau, der die Jungfrau Maria begegnet sein soll. Der Film formuliert eine Phänomenologie gegenwärtiger Medienrealitäten und erkundet Möglichkeiten der Anwesenheit des Heiligen in der Welt.
Die Handlung des in sechs Kapitel unterteilten Films ist schnell konturiert. Der Kriegsreporter Jacques Mayano (Vincent Lindon), der bei seinem letzten Einsatz in Syrien schwer traumatisiert wurde, als sein langjähriger Fotograf und Freund ums Leben kam, wird als Investigator in eine kirchliche Kommission berufen. Im Süden Frankreichs soll seit zwei Jahren die Jungfrau Maria erscheinen und durch die jugendliche Novizin Anna (Galatéa Bellugi) Botschaften der Liebe und des Friedens senden.
Menschen strömen in Scharen dorthin, zwei Priester verfolgen vor Ort eigene Interessen, der zuständige Bischof ist konsterniert, und der römischen Kurie ist dringend daran gelegen, die Angelegenheit zu klären. Denn der Vatikan erkennt lieber eine Erscheinung zu wenig als einen Betrug an. Das erfährt Mayano in den vatikanischen Geheimarchiven, die unzählige ähnliche Vorkommnisse verzeichnen und nur bei wenigen eine Glaubwürdigkeit attestieren. Entsprechend kritisch ist die von der Kurie entsandte Kommission eingestellt. Gegen Ende des Films ereignen sich allerdings mehrere überraschende Wendungen, die Mayano wieder zurück ins Kriegsgebiet und ins jordanische Flüchtlingslager Zaatari führen. Das Heil scheint nicht vermittelbar, aber sehr wohl erfahrbar zu sein.
Marienerscheinungen im historischen Kontext
In der Neuzeit künden gerade die Marienerscheinungen im katholischen Kontext von der religiösen Hoffnung auf Heilung und Erlösung und von der Sehnsucht nach einer Annäherung an ein göttliches Geheimnis. Sie sind gleichzeitig aber auch einer säkular-kritischen Realität verhaftet und erfahren Überprüfung und Kontrolle. Menschen, die sich der religiösen Sehnsucht hingeben, suchen in der Pilgerschaft zu den Erscheinungsorten nach einer Möglichkeit, von Gott gesehen zu werden und seiner Präsenz in der Welt ganz nahe zu kommen, die durch die Erscheinungen und Botschaften der Jungfrau offenbar zu werden scheint.
Diese Sehnsucht wird auch in den letzten Jahren immer wieder filmisch reflektiert: So erzählt „Lourdes“ von Jessica Hausner in nüchternen Bildern über eine Pilgerfahrt zu dem französischen Wallfahrtsort, inklusive einer Wunderheilung an einer skeptischen jungen Frau, die nicht mit der Möglichkeit eines Heilung rechnet, während ihre tiefgläubigen Mitpilgernden vor Misstrauen und Neid vergehen. In „Anatomia del Miracolo“ von Alessandra Celesia versucht eine Anthropologin, einen besonderen Marienkult in Neapel zu ergründen, und wird selbst in den Bann der Anschauung Mariens hineingezogen. Mit „Mary’s Land“ von Juan Manuel Cotelo entstand eine semi-fiktionale Werbestory für den bosnischen Wallfahrtsort Medjugorje, und die österreichische Serie „Braunschlag“ persifliert eine Erscheinungslüge in acht Folgen, satirisch überzogen und zugleich äußerst treffend.
Rechnet das Kino mit dem Wirken Gottes in der Welt?
Rechnet das Kino mit dem Wirken Gottes in der Welt? Es macht zumindest den Anschein, auch wenn die filmischen Formen und Annäherungen äußerst unterschiedlich ausfallen; etwa im großen Gleichnis „Glücklich wie Lazzaro“ von Alice Rohrwacher, das die Suche nach dem richtigen Leben im falschen thematisiert, oder auf der entgegengesetzten Seite in „Die Hütte“ von Stuart Hazeldine,der von der Theodizee-Frage ausgehend filmisch und theologisch etwas einfältig zentrale Fragen des Glaubens und der Begegnung mit Gott anspricht.
Doch während sich übernatürliche Realitäten, Fabelwesen, Gottheiten und Mächte im Kino episch entfalten (etwa als modernes Erlösungs- und Auferstehungsmärchen in „Shape of Water“ von Guillermo del Toro), wirkt die Inszenierung einer christlich geformten Neuoffenbarung oft allzu bemüht und unglaubwürdig, im deutlichen Unterschied zu Betrachtungen des religiösen oder rituellen Vollzugs, wie etwa in Philip Grönings „Die große Stille“.
„Die Erscheinung“ von Xavier Giannoli wagt sich indes ins Grenzgebiet des fiktionalen Erzählens vor.
Menschen erleben die globale Gegenwart inzwischen primär medial vermittelt. Erfahrung ist heute wesentlich Medienerfahrung – auch auf der Kinoleinwand und an Bildschirmen, die den Augen Blicke in die Welt verleihen. Die Mediatisierung kommunikativer Handlungen prägt private und professionelle Begegnungen, den Zugang zu Informationen und Erfahrungen anderer Menschen. Was gilt als „wahr“ und „authentisch“? Welche Quellen, welche Zeugen sind glaubwürdig, und was bedarf weiterhin der eigenen Anschauung oder Anhörung?
Im Umgang mit religiösen „Marien“-Offenbarungen kommt erschwerend hinzu, dass die Quellenlage nicht überprüft werden kann: Denn in der Regel berichtet eine einzelne Visionärin von ihrer höchst subjektiven Wahrnehmung, eben von einer empfangenen göttlichen Botschaft. Das Medium der Offenbarung ist ihr gesprochenes Wort, es gibt zunächst keine weitere Quelle. Christlich betrachtet muss die Möglichkeit göttlicher Offenbarung in der Geschichte angenommen werden, daher kann eine solche Erscheinung weder grundsätzlich in Abrede gestellt werden, noch ist ihr grundsätzlich zuzustimmen. Deshalb erfolgt ein Prüfverfahren, und die Echtheit einer Offenbarung erweist sich durch ein außerhalb der Vision liegendes Wunder – eine Erscheinung oder ein nachgewiesen übernatürliches Ereignis.
Medial strukturierte Gegenwarten
Vor allem im ersten Drittel von „Die Erscheinung“ stellt der Regisseur die Frage medial vermittelter Bedeutung ins Zentrum. Der Film beginnt mit Kriegsbildern auf einem Fernsehgerät – eine erste „Erscheinung“ der harten Realität, die sich in der nüchternen Kameraführung durch den gesamten Film fortsetzt. Bei einer Fotoausstellung zu Ehren des verstorbenen Fotografen steht ein Werk aus dem Kriegsgebiet im Zentrum: ein Kind, das eine zerbrochene und erblindete Ikone der Madonna von Kasan in der Hand hält. Der erste Auftritt des römischen Kardinals findet auf der Wikipedia-Seite am Laptop des Journalisten statt; dieser wird seinerseits durch mehrere Reportagen in der Akte des Kirchenmannes repräsentiert, der ihn schließlich engagiert.
Ein Madonnenbild und das Porträt von Papst Franziskus an der Wand begleiten ihr Gespräch. Fotos vom Ort der Marienerscheinung und von der jungen Prophetin Anna werden zusammen mit Landkarten in Mappen abgelegt, später sammeln sie sich an der Recherchewand des Journalisten. Diese Bilder vermitteln Wahrhaftigkeit, obwohl sie lediglich Papier sind. Immer wieder hebt die Kamera Landkarten und Ortseinkreisungen in den Fokus, Realitätsannäherungen – in den Akten der Kurien und später auf dem Tisch der Prüfkommission, bei Mayano im Zimmer oder auf dem Navigationsgerät. Das alles erweckt den Anschein, als ob sich über Bilder und Karten etwas konkretisieren und festhalten ließe, das sonst zu verwischen droht.
In den vatikanischen Geheimarchiven wird Mayano eine lange Liste mit anerkannten und nicht anerkannten Marienerscheinungen präsentiert; das Phänomen ist keineswegs ein Einzelfall, wie die auf Microfiches festgehaltenen unzähligen Bilder und Dokumente belegen. Mayano bekommt sogar die handschriftliche Notiz einer besonderen Marienerscheinung präsentiert, wobei das Papier mit höchster konservatorischer Aufmerksamkeit behandelt wird. Doch Glaube und Zweifel, Liebe und Hoffnung liegen nicht im Archiv. Deshalb fängt Mayano damit an, was er am besten kann: mediale Oberflächen zu durchdringen, sich mit eigenen Augen ein Bild zu verschaffen, Fakten zu sammeln und daraus einen eigenen Eindruck zu gewinnen. Seine Position in der kirchlichen Untersuchungskommission ist die eines Sprachrohrs: er soll die Recherche moderieren, an der auch ein Priester, eine Psychiaterin, ein Theologe, ein Beauftragter der Diözese, ein Kameramann und eine Stenotypistin beteiligt sind.
Blicke und Berührungen
Vor Ort, in dem südfranzösischen Dörfchen Carbarat, ist längst ein regelrechter Pilgertrubel ausgebrochen. In der Turnhalle warten hunderte Menschen auf Anna, ihren Blick, ihre Botschaft, ihre Berührung. Sie verliest einen handschriftlichen Zettel mit Nachrichten der Gottesmutter: „Heute grüße ich jene, die mit großen Erwartungen von weither zu uns kamen, aus vom Krieg und Armut gezeichneten Ländern. Ich grüße auch jene, die auf der Strecke zurückgeblieben sind, die es nicht geschafft haben. Sie sind auf ewig bei uns. Beten wir für sie.“ Diese Worte scheinen direkt an Mayano adressiert zu sein, den der Tod seines Freundes komplett aus der Bahn geworfen und mit einem Hörsturz zurückgelassen hat.
In der ersten Befragung durch die Kommission entpuppt sich Anna als ein Mädchen von nebenan, eine zarte junge Frau, die ganz mit sich im Reinen ist. Die Kamera ruht minutenlang auf ihrem Gesicht mit den großen strahlenden Augen. Sie erzählt von ihrer Herkunft und der ersten Erscheinung; den Standort zeichnet sie auf einer Karte ein. „Ich bin keine Lügnerin“, sagt sie zu Mayano unter vier Augen. Später sucht sie immer wieder direkten Kontakt zu ihm und sucht nach der Normalität im religiösen Irrenhaus der Pilgerströme.
Doch zunehmend entwickelt sich ein Netz der Ungereimtheiten um Anna: Ihre innere Sicherheit und die Glaubwürdigkeit ihrer Marien-Botschaften werden brüchig und vom Devotionalienkitsch überdeckt. Mayanos Partnerin erkennt über Skype das Problem. In sensibler Resonanz filtert sie aus dem Hörensagen die entscheidende Frage heraus, die der Reporter im Rauschen der Realität vor Ort nicht wahrnehmen kann: „Wie soll dieses arme Mädchen da wieder herauskommen?“ Die gebrochene Ikone von Kasan taucht erneut auf, im Zimmer von Annas Jugendfreundin Mériem und ihrem Partner Pawel, die beide verschwunden sind. Dieses Bild spielt eine Schlüsselrolle und führt Mayano später zum entscheidenden Verstehen.
Zunächst versucht Anna, die entgleitende Lage noch zu kontrollieren; später reagiert sie mit größerer Entschiedenheit und Hingabe an Glauben und Gebet, immer stärker und unerbittlich. Der von ihr gewählte Ausweg läuft auf ein tragisches Ende zu.
Natürlich sind die Namen der Hauptfiguren symbolisch zu interpretieren: Anna und ihr enger Freund Joachim sind Überbringer und Geheimnisträger, die nach den biblischen Eltern der Gottesmutter Maria benannt sind. Deren Name begegnet auch in Mériem, der verschollenen Freundin von Anna, die sich als Schlüsselperson zum Geheimnis der Marienerscheinung herausstellt. Ihr Partner Pawel (Paulus) hat eine innere Wandlung vom Soldaten zum christlich motivierten Helfer im Flüchtlingslager Zaatari erlebt und ist für die erste Versetzung der im Film so wichtigen Marienikone von Kasan verantwortlich. Schließlich Jacques Mayano selbst: Er gibt den „Bruder Jakob“, dem die Klosterglocken läuten, der hören will und es durch sein Trauma doch nicht kann, der seinen Freund nicht schützen konnte und sich wie ein Verräter fühlt. Sein Name ist dem des Apostels Jakobus gleich, einem der vier biblischen Auferstehungszeugen und wohl ein Bruder Jesu.
Fragen nach dem Kern der christlichen Religion
Nach Annas Tod schickt Mayano alle Dokumente ins Archiv nach Rom. Ihre Vision ist damit nur eine weitere nicht bestätigte Erscheinung, eine weitere Akte. Mayano selbst geht es längst nicht mehr um den Nachweis der Glaubwürdigkeit der Marienerscheinung, an der er für sich nicht mehr zweifelt. Denn was ist Wahrheit? „Die Menschen haben Anna geliebt. Ich denke daran, was sie für mich war, für uns“, schreibt er dem Kardinal, während er schon wieder auf dem Weg zurück ins Kriegsgebiet ist, die heilige Ikone im Gepäck. Über seine eigene Erkenntnis notiert er: „Ich denke an die unglaubliche Geschichte von einem Engel, der einer Jungfrau verkündet, dass sie mit Gottes Sohn schwanger geht. ... Ich denke an meinen toten Freund, der sein Leben lang nach sichtbaren Beweisen suchte, nach Abbildern der Wahrheit. Doch welcher Wahrheit? Welche Bilder? Die Wahrheit kann immer woanders sein. Wie können wir an etwas glauben, das sich unserem Anblick entzieht?“ Die Möglichkeit göttlicher Offenbarung in der Welt durchdringt Mayano jetzt auf neue Weise. Doch er macht diese Erkenntnis für andere nicht sichtbar, sondern behält sie für sich, treu zur Ikone von Kasan und zu der durch Anna und ihre Freunde übermittelten Botschaft. Es geht daher nicht mehr darum, an etwas zu glauben, sondern um den Glauben, dass etwas ist, und dass dieses vor allem im Anderen begegnet.
„Die Erscheinung“ interessiert sich nicht für das Spektakel oder das Geheimnis einer religiösen Vision. Der Film geht den damit verbundenen religiösen Hoffnungen kaum nach: Er zeigt nüchtern die persönlichen Verwicklungen und die Gefahren der Scharlatanerie, genauso wie das Bemühen und die Ernsthaftigkeit, dem nicht zu greifenden Phänomen religiös und institutionell gerecht zu werden.
Regisseur Xavier Giannoli stellt auf einer tieferen Ebene die Frage nach dem Kern der christlichen Religion, indem er filmisch in der Gestalt des Protagonisten Jacques Mayano, der als Journalist die herrschende Diskurslogik einer kritischen Öffentlichkeit repräsentiert, die Schwelle des sinnlich Wahrnehmbaren und auf Fakten zu reduzierenden Wissens überschreitet und auf die Innenseite der Möglichkeit von Offenbarung tritt. Mayano geht dem Gegebenen auf den Grund, doch er entscheidet sich, nicht selbst zur Stimme dieser Möglichkeit zu werden. Heil ereignet sich, immanent und transzendent. Durch die Entzogenheit einer Botschaft vor der Öffentlichkeit wird diese nicht weniger wahr. Medialität und Ikonizität werden in „Die Erscheinung“ zu Brücken in der Kluft zwischen Dogma und Erfahrung.