Anhand dreier Frauen aus unterschiedlichen sozialen Schichten geht der Film dem Problem der sexuellen Belästigung von Frauen in Ägypten nach. Dabei reduziert er seine Protagonistinnen weitgehend auf ihre Fallgeschichten und bleibt damit zwangsläufig etwas thesenhaft; als engagierte Ausleuchtung eines gesellschaftlichen Missstands, der sowohl durch traditionelle Normvorstellungen als auch durch mangelhafte juristische Handlungsmöglichkeiten bedingt wird, ist er trotzdem aufrüttelnd.
- Ab 14.
Kairo 678
- | Ägypten 2010 | 100 Minuten
Regie: Mohamed Diab
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Filmdaten
- Originaltitel
- CAIRO 678
- Produktionsland
- Ägypten
- Produktionsjahr
- 2010
- Produktionsfirma
- New Century Prod.
- Regie
- Mohamed Diab
- Buch
- Mohamed Diab
- Kamera
- Ahmed Gabr
- Musik
- Hany Adel
- Schnitt
- Amr Salah
- Darsteller
- Nelly Karim (Seba) · Bushra (Fayza) · Nahed El Sebai (Nelly) · Omar El Saedd (Omar) · Basem El Samra (Adel)
- Länge
- 100 Minuten
- Kinostart
- 08.03.2012
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Während der Proteste gegen das ägyptische Regime Husni Mubaraks konnte man den Eindruck gewinnen, die Geschlechterverhältnisse seien in Ägypten plötzlich kein Thema mehr – Frauen demonstrierten mit Männern zusammen auf dem Tahir-Platz; für kurze Zeit unterbrach das gemeinsame Ziel sogar den Alltag sexueller Belästigungen; laut einer Studie von 2008 sind über 80 Prozent der ägyptischen Frauen davon betroffen. Seit dem Sturz Mubaraks scheint nun alles wieder beim Alten zu sein. Immerhin aber ist das Tabuthema ein Stück weit in die Öffentlichkeit gelangt; Internet-Portale wie harassmap.org geben Frauen in Ägypten die Möglichkeit, sexuelle Übergriffe publik zu machen.
„Kairo 678“ von Mohamed Diab spielt in der Zeit davor. Sexuelle Belästigungen sind an der Tagesordnung, doch niemand wagt, darüber zu sprechen. Der Film erzählt von drei sehr unterschiedlichen ägyptischen Frauen, deren Wege sich kreuzen. Fayza, eine Muslimin aus bescheidenen Verhältnissen, wird auf dem Weg zur Arbeit in den überfüllten Bussen ständig begrapscht. Für die Männer hat sich dabei ein Trick bewährt, der unter dem Namen „Zitronentest“ kursiert. Wenn das Opfer den Mann, der sich gerade an den Körper der Frau presst, zur Rede stellt, holt er eine Zitrone aus seiner Hosentasche und gibt vor, diese nach dem Einkauf dort vergessen zu haben. Greift die Frau hingegen nicht ein, kann er ungehindert fortfahren, dieses Mal jedoch ohne Attrappe. Fayza ist durch diese tagtäglichen Überschreitungen so traumatisiert, dass sie die körperliche Nähe ihres Ehemanns nicht mehr erträgt. Einmal beißt sie vor dem Schlafengehen in eine Zwiebel, um ihn von sich fern zu halten, denn auf Zurückweisung reagiert er mit gekränktem Narzissmus und patriarchalischer Zurechtweisung. Durch Seba, eine privilegierte Frau aus der Oberschicht, die vor einigen Jahren Opfer einer Massenvergewaltigung wurde und seitdem eine Selbsthilfegruppe leitet, lernt Fayza, sich zur Wehr zu setzen. Zunächst mit einer Haarnadel, später mit einem Messer, mit dem sie den Männern im Bus ins Genital sticht. Dass es zu diesem Zeitpunkt neben dem gewaltsamen Widerstand keine aussichtsreiche Option gibt, wird an Nellys Fall klar. Sie reicht als erste Frau in Ägypten eine Klage wegen sexueller Belästigung ein. Ihre Familie und die ihres Verlobten versuchen sie jedoch dazu zu bewegen, die Anzeige zurückzuziehen, da sie um ihren Ruf fürchten.
Bei dieser Konstellation dreier Frauenfiguren aus unterschiedlichen sozialen Schichten ist das Schematisch-Modellhafte kaum zu vermeiden: Alle Aspekte wie Religion, Klasse, soziales Umfeld oder Familie sind vertreten und werden auf die unterschiedlichen Rollen verteilt. Bei Fayza gelingt die Ausgestaltung der Figur zwar recht plastisch; sie erhält im Unterschied zu den anderen beiden mehr Raum, um sich zu entfalten. Am Ende aber werden die Figuren auf ihre Fallgeschichte reduziert; außerhalb ihrer Rolle als Opfer sexueller Übergriffe haben sie praktisch kein Eigenleben. Das heroische Finale kann man im Sinne eines engagierten Aufklärungskinos zwar nachvollziehen, der Komplexität der geschlechterpolitischen Verhältnisse wird es jedoch nicht annähernd gerecht.
Was der unentschieden zwischen Charakterstudie, Rachegeschichte und sozialkritischem Drama changierende Film allerdings erschreckend plausibel vor Augen führt, ist der Umstand, wie begrenzt der Handlungsspielraum für die betroffenen Frauen tatsächlich ist. Schließlich zwingen der unausgesprochene Schweigezwang und die Latenz eines rechtsfreien Raums die Frauen zum Bruch des Gesetzes, wenn sie sich nicht mit der Opferrolle abfinden oder durch eine Anzeige sozial geächtet werden wollen. Was diese perverse Verschiebung anrichtet, wird besonders bei Fayza deutlich, die im Verborgenen als Rächerin auftritt, nach außen hin aber viel Mühe aufwendet, das Bild einer „anständigen Muslimin“ aufrecht zu erhalten. In einer Szene wirft sie Seba und Nelly vor, durch ihr freizügiges Auftreten die Übergriffe überhaupt erst herausgefordert zu haben – ein Argument, das auch die Regierung Mubarak öffentlich vertreten und mit der Aufforderung verknüpft hat, sich zu verschleiern. Dass dabei Opfer- und Täterrollen auf perfide Weise verdreht werden, ist allerdings ein gängiger Mechanismus bei sexueller Belästigung, auch in der westlichen Welt.
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