„Wir brauchen etwas anderes.“ Mit dieser Erklärung eröffnet April Wheeler, Mutter zweier Kinder und Hausfrau in einem schmucken Anwesen in der „Revolutionary Road“ einer namenlosen Vorstadt von New York, den befreundeten Nachbarn Shep und Milly jenen Plan, den die Wheelers ein paar Tage zuvor gefasst haben. April und ihr Mann Frank werden mit den Kindern nach Europa auswandern, genauer gesagt nach Paris. Dort wollten sie eigentlich schon immer hin. Shep und Milly reagieren verständnislos: „Aber wozu?“ „Wir werden nicht jünger, wir wollen nicht, dass das Leben einfach vorbei geht.“ Haus und Auto sollen verkauft, April in den Job zurück wechseln, während Frank zunächst vom Ersparten leben und „herausfinden will, was er wirklich tun will.“ Als der Abend vorbei ist und die Paare wieder allein, sieht man zwei verschiedene Welten: Die Wheelers, getragen von der Euphorie ihres unmittelbar bevorstehenden Aufbruchs, machen sich über die Fassungslosigkeit und das Spießertum der anderen lustig, während diese sich vergewissern, dass der Plan doch „ein wenig unreif“ sei. Wobei Milly im Bett eine Träne verdrückt, und man nicht ganz sicher ist, ob vor lauter Glück über einen reiferen Gatten oder erschüttert durch die Erkenntnis, dass ihr Shep zu solchem Elan niemals fähig wäre.
Zu diesem Zeitpunkt, im Film ist etwa eine halbe Stunde vergangen, könnte man „Zeiten des Aufruhrs“ als eine Parodie auf das Amerika der Vorstädte, der Langeweile ihres Alltags und der Fantasielosigkeit ihrer Werte verstehen. Der Film ist das sicherlich alles auch, und Regisseur Sam Mendes setzt fort, was er mit „American Beauty“
(fd 34 066) vor einer Dekade begonnen hat: Die Dekonstruktion des amerikanischen Subjekts und seines Lebensraums. Doch im Gegensatz zu dem satirisch überzeichnete Debüt sorgt Mendes’ neuer Film von Anfang an dafür, dass man ihn sehr ernst nimmt. Bei der Heimfahrt nach einer missglückten Theaterpremiere der Amateurschauspielerin April kommt es zu einem schlimmen Ehestreit, der, das spürt man sofort, nicht der erste ist und nicht der letzte sein wird, und der darin gipfelt, dass Frank April fast weinerlich und voller Selbstmitleid vorwirft, er verdiene das alles nicht, „dieses Scheißleben … Du hast mich hier herausgebracht.“ Damit sind die Verhältnisse ziemlich schnell klar: Die Ehe der Wheelers ist kaputt, ihre Jugendträume verblasst, die Vorstadt öde; was bleibt, ist ein Mittelklasseleben, das alle führen, aus Arbeit, Gier, Eitelkeit und den legalen Drogen Alkohol, Fernsehen, Konsum und Sex.
„Zeiten des Aufruhrs“, Richard Yates’ 1961 erschienener und erst mit großer Verspätung 2002 ins Deutsche übersetzter Roman, spielt zwischen Frühling und Herbst 1955. Mendes hat ihn elegant und bewundernswert verfilmt – als absolut gegenwärtigen Film, der von Menschen, Problemen und existenziellen Fragen handelt, in denen jeder sich selbst wiedererkennen kann. Ein Lehrbeispiel für jede Literaturverfilmung: Was in der Vorlage innerer Monolog oder Gedanke ist, wird im Film nicht in Dialog verwandelt, sondern in Ausdruck und Geste der Darsteller, in eine Bewegung, ein Innehalten, ein kurzes Atmen der keineswegs aufdringlichen Kamera von Richard Deakins oder einen kommentierenden, distanzierenden oder umgekehrt Kontakt herstellenden Schnitt. Mendes hat bis in die Nebenrollen hervorragende Darsteller. Vor allem Kate Winslet zeigt als April, dass sie die unterschätzteste Schauspielerin ihrer Generation ist – sie trägt den Film durch schiere Präsenz und Energie, obwohl dessen Perspektive zunächst die des Gatten ist, bevor er sich, anders als Yates’ Roman – mehr und mehr und schließlich ganz April zuwendet.
Wie April ist auch Frank unglücklich. Der Job ist frustrierend, die Affäre mit einer Sekretärin nur gut für einfache Bestätigungen, die er bei seiner Frau nicht bekommen kann. Am Abend seines 30. Geburtstags gewinnt ihn April für ihre Idee, den Paris-Traum ihrer Jugend wahr zu machen. „Warum nicht? Wer hat die Regeln gemacht?“ Wer wünschte sich keine Partner, die einen in den eigenen Träumen bestärken, nicht in der eigenen Trägheit? April glaubt wirklich an Frank, mehr als er selbst. Doch bald gewinnt wieder die Trägheit die Oberhand. Franks Chef macht ihm ein Angebot, das er kaum ablehnen kann, und April wird schwanger. In diesem Film geht es immer wieder um die Frage nach der Bedeutung von Freiheit und Selbstbestimmung; es ist eines der seltenen US-Werke, die eine Abtreibung nicht unisono als böse kategorisiert, sondern sogar als einen Akt der Befreiung konnotiert. So spitzt sich während eines Sommers dieses Melodram ohne Melo ganz lakonisch zu; der Traum der Amerikaner von Paris wird zum Symbol eines weit tieferen, grundsätzlicheren Konflikts: zwischen dem Leben, das man führt und dem, das man führen will. Nichts daran ist veraltet, alles daran aktuell. Ausgetragen wird vieles ganz beiläufig, in Form kleiner Alltagsbeobachtungen – und den schnell eskalierenden, mit Wucht gespielten Streitereien des Ehepaares. Mendes’ Film ist eine abgründige Studie der westlichen Ehe. Manchmal erinnert er an „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“
(fd 14 478) oder Bergmans „Szenen einer Ehe“
(fd 19 216), dann wieder an Satiren von Woody Allen und die Suburbia-Filme von Todd Solondz („Happiness“, fd 33 595) und Todd Fields („Little Children“, fd 38 126). Wie letztere ist auch „Zeiten des Aufruhrs“ vor allem eine überaus hellsichtige und berührende, mitunter auch bittere Betrachtung über Entfremdung, Hoffnungslosigkeit und Angst vor der Freiheit. Ein Angriff auf das vermeintlich „normale Leben“, auf blindes Sicherheitsdenken und unsere ganz alltägliche Feigheit.
Es ist der Mann Frank, der diese Feigheit repräsentiert, der der Verführungskraft des Kapitalismus und des Konsums am Ende nachgibt, der die Wahrheit zwar nicht vergisst, aber besser im Lügen wird. Und es ist April, die die Wahrheit ausspricht: „Wer nichts probiert, kann nicht scheitern.“ Es ist auch die Frau, die, wieder einmal, am Ende dafür bestraft wird. Der Film macht aber deutlich, dass sie trotzdem recht hat, und die Freiheit den Versuch wert ist, auch wenn man ihn teuer bezahlen muss. Als ob es darum ginge, das Träumen zu lassen. Sam Mendes erzählt genau das Gegenteil: Nicht die Träume sind schuld am Unglück, sondern dass wir aufgeben.