Gibt es Filme über Wein? Claude Chabrol hat ihn in seinen Filmen generös serviert, aber sein Augenmerk galt mehr den Mahlzeiten. Stanley Tucci und Campbell Scott verachteten ihn nicht, doch der Kult, den sie in „Big Night“
(fd 32 503) zelebrierten, galt dem Essen. Auf der Suche nach Filmen, die ihren Glanz dem Wein zu verdanken haben, kommen am ehesten Alfonso Arraus „Dem Himmel so nah“
(fd 31 575) und Eric Rohmers „Herbstgeschichte“
(fd 33 348) ins Gedächtnis. Filmemacher haben sich offenbar nicht sehr danach gedrängt, die spezifischen Genüsse des Weins als Aphrodisiakum des süßen oder bitteren Lebens zu entdecken. Wer im Kino Wein sagt, meint zumeist Alkohol und ist damit gleich bei einem anderen Thema. Erst Alexander Payne, unlängst Regisseur eines so amüsanten und herzergreifenden Films wie „Jack Nicholson ist Schmidt“
(fd 35 843), lässt seinen unaufregenden Helden in „Sideways“ die Nase tief ins Glas stecken und eine Lobrede auf die Vorzüge des Pinot Noir anstimmen: „Ein bisschen Zitrus. Vielleicht etwas Erdbeer... Passionsfrucht... und ein winziger Beigeschmack von Spargel. Ein Anflug von nussigem Edamer Käse...“. Wein und seine in die komischsten Analogien getriebenen Kenner-Elogen haben viel mit der menschlichen Seele und ihren oft ebenfalls lächerlichen Verwirrungen zu tun.
„Wenn jemand Merlot bestellt, dann gehe ich. Ich trinke keinen Merlot!“ Was Wein angeht, ist sich Miles seiner Sache ganz sicher. Mit dem Rest des Lebens wird er leider weniger gut fertig. Nun ist er schon um die Vierzig, hat einen dicken Roman geschrieben, den kein Verleger haben will, und auch seine Ehe ist seit zwei Jahren vorbei. Miles klammert sich an kleine Hoffnungsschimmer, die nie irgendwohin führen, während er fortfährt, Zwölfjährigen Englischunterricht zu erteilen. Er hat sich daran gewöhnt, dass er im Leben meist den Kürzeren zieht, und fühlt sich am wohlsten, wenn er seine Depressionen in Pinot Noir ertränken kann, dem Wein seiner Wahl, dessen Sensibilitäten den seinen so sehr gleichen. So kann es denn auch nur eine Fahrt durch Kaliforniens „wine country“ sein, zu der er seinen alten Collegefreund Jack einlädt, bevor der am folgenden Wochenende die Tochter eines schwerreichen Armeniers zum Altar führen wird. Auch Jack ist ein Verlierer – ein auf Synchronparts in Werbespots reduzierter Möchtegern-Schauspieler, der das Leben allerdings von der leichten Seite nimmt. In jeder Frau wittert er eine Gelegenheit, seinen Hormonüberschuss auszugleichen. Dabei geht er genauso ungeschlacht zu Werke wie beim Weintrinken. Er stürzt den Wein in riesigen Schlucken hinunter, und er zögert keine Sekunde, die Frau, die er gerade haben will, mit falschen Versprechungen ins Bett zu locken.
Nach Miles’ Vorstellung soll die Woche vor Jacks Hochzeit ein Geschenk an den Junggesellen werden, unschuldig genug geplant mit sonniger Natur, Golfspielen und natürlich vielen Weinproben in Kaliforniens neuester Weinlandschaft Santa Barbara County. Die Dinge nehmen ihren eigenen Lauf, als die beiden zwei alleinstehende Frauen kennenlernen. Während Miles von den eigenen Gefühlen so überwältigt wird, dass er sich zu nichts anderem aufraffen kann als zu leidenschaftlichen Diskussionen über die transzendierenden Eigenschaften seiner liebsten Weinsorte, holt sich Jack als Folge seiner letzten vorehelichen Abenteuer eine gebrochene Nase und verliert die Geldbörse mit seinen Trauringen im Schlafzimmer einer verheirateten Kellnerin.
„Sideways“ ist ein unglaublich komischer Film, gleichzeitig aber auch einer der menschlichsten, die seit langen Jahren in Hollywood entstanden sind. Es ist einer jener seltenen Filme, bei denen man sich an der munteren Oberfläche nicht satt sehen (und hören) kann, dessen Verführungskraft aber unweigerlich hineinzieht in die Komplexität von Figuren, denen man zu Anfang kaum zutraut, dass sie einen zwei Stunden lang interessieren könnten. Wie bei der Verkostung eines unbekannten Weins, der seinen Charakter erst nach und nach preisgibt. Es ist erstaunlich, wie weit Payne die Analogie zum Wein zu treiben vermag. Was zu Beginn als die Marotte eines 40-Jährigen erscheint, der sich darüber klar wird, dass er im Leben wohl mit nichts anderem mehr reüssieren kann als mit seinem Weinverstand, verdichtet sich in den alkoholisierten Konversationen allmählich zu einer melancholischen Suche nach dem verpassten Leben und der verpassten Liebe. Wenn Miles schließlich den 1961er, den er aus Ehrfurcht nie entkorkt hat, in einem billigen Hamburger-Lokal aus Pappbechern trinkt, weiß er, dass er an einer Stelle seines Daseins angekommen ist, wo er sein Leben nur noch wegwerfen kann oder eine Entscheidung treffen muss.
Weder Miles noch Jack sind Charaktere, die man als Sympathieträger bezeichnen könnte. Das ist typisch für die Hauptfiguren in Alexander Paynes Filmen. In den ersten beiden waren es Frauen: in „Baby Business“
(fd 32 913) eine schwangere drogenabhängige junge Mutter, die zwischen die Fronten von Abtreibungsgegnern und -befürwortern gerät, aber nur den eigenen Vorteil im Sinn hat; in „Election“
(fd 34 421) eine streberische Schülerin, die um alles in der Welt Präsidentin der Schülerverwaltung werden will. Seit „Jack Nicholson ist Schmidt“ kommen die Männer an die Reihe: Zunächst der pensionierte Versicherungsstatistiker Warren Schmidt, der nach dem Tod seiner Frau die Stätten seiner Kindheit aufsucht, ohne die Bestätigung seiner Wichtigkeit zu finden, nach der er so verzweifelt forscht. Nun sind es Miles und Jack, und es wird endgültig klar, dass sich Alexander Payne nicht für Erfolgsmenschen interessiert. Alle seine Protagonisten, ob sie sich nun im Leben abgestrampelt haben oder nicht, sind letztlich Versager, die an den Ansprüchen der Umwelt und an ihren eigenen Veranlagungen scheitern. Schicht für Schicht trägt Payne ihre Fassaden ab, mit denen sie sich vor anderen und vor sich selbst zu schützen versuchen. Er tut das ohne die geringste Spur von Moralisieren, indem er die Komik entdeckt, die ihren Verstellungen und Selbstlügen innewohnt. Das Wunder seiner Dialoge und seiner Inszenierung ist dabei, dass er sich immer weniger lustig macht, je komischer die Situationen werden. Am Ende ist man als Zuschauer überzeugt, dass man glänzend unterhalten wurde, einem aber gleichzeitig Menschen ans Herz gewachsen sind, für die man zu Beginn des Films nur wenig Sympathie empfinden konnte.
Paynes Filme erzählen aber nicht nur individuelle Geschichten; sie handeln auch von dem Land, in dem sie spielen, und von dem Menschenschlag, der in diesem Land lebt. Bei „Baby Business“ und „Election“ waren die Parallelen zu politischen Ereignissen offensichtlich, bei „Jack Nicholson ist Schmidt“ und „Sideways“ sind die Bezüge zu gesellschaftlichen Eigenarten subtiler. Payne, der mit „Sideways“ zum ersten Mal sein heimatliches Nebraska verlassen hat, sieht Kalifornien und die Kalifornier mit dem unvernebelten Blick des Neuankömmlings. Er gibt uns weder die Landschaften noch die Menschen, die aus Dutzenden von Hollywood-Filmen geläufig sind. Vielmehr entführt er in einen Landstrich, der kalifornisches Kerngebiet ist: eine Gegend mit weit ausladenden Hügeln und Feldern, denen die monatelang sengende Sonne alljährlich ihre braun-goldene Farbe verleiht, eine Heimat für mächtige Eichen und symmetrische Weinberge. Dort leben Menschen, die mit der Hektik der Großstädte nichts zu tun haben wollen, die ein stilleres Leben bevorzugen, die sich dann aber liebevoll um die Städter kümmern, die mit unvermeidlicher Regelmäßigkeit an den Wochenenden in ihre suburbane Idylle einfallen, ohne zu begreifen, dass das Leben in der unverbrauchten Mitte des Staates weniger Zufall als Ideologie ist. Payne hat das begriffen und breitet es in wunderschönen poetischen Bildern vor dem Zuschauer aus. Auch hierbei verliert er nicht seinen humorvollen Blick: Das pseudo-skandinavische Städtchen Solvang, die billigen Motels von Buellton und der Bus-Tourismus in den Weinbaugebieten sind authentisch. Solche Authentizität in der Beschreibung des Umfelds war stets tragendes Merkmal seiner Filme und schafft auch diesmal wieder den Nährboden für die Glaubwürdigkeit der Figuren, die weiter von gewohnten Hollywood-Klischees nicht entfernt sein könnten. Der Titel „Sideways“ unterstreicht die Verbindungslinien. Er ist abgeleitet von der Idealposition, in der Weinflaschen gelagert werden sollten, aber er bezieht sich auch auf die Seitenwege, die Menschen manchmal einschlagen müssen, um eine neue Perspektive für ihr Leben zu gewinnen.