Lumos – es werde Licht! Bühne frei für den inzwischen 13-jährigen Harry Potter, der in der ersten Szene des Films heimlich unter der Bettdecke Zaubersprüche einstudiert. Um sein Lehrbuch lesen zu können, hält er seinen Zauberstab in der Hand, sagt „Lumos“, und an der Spitze des Stabes erscheint ein Licht, das man, je nach Situation, an Stelle einer Fackel oder Taschenlampe nutzen kann. Manische „Harry Potter“-Exegeten werden angesichts dieses Anfangs entsetzt aufstöhnen, bricht Harry doch bereits hier ein Gesetz, das es ihm strengstens verbietet, in der Muggel-Welt, der Welt der Nicht-Zauberer also, seine magischen Fähigkeiten anzuwenden. In Joanne K. Rowlings literarischem Erzählkosmos wäre solch ein Fauxpas unmöglich, doch das Kino hat seine eigenen Gesetze und Essenzen, und eine davon ist eben: das Licht. Wobei es im dritten „Harry Potter“-Film über weite Strecken vor allem durch seine Abwesenheit auffällt: Selten war die Welt sowohl in London als auch auf dem Zauberschloss Howarts so düster, Regen getränkt oder von finsterer Nacht ummantelt, wie in Alfonso Cuaróns eigenwillig-faszinierender Inszenierung. Das Licht selbst wird zum magischen Gut, mit dessen begrenzten Ressourcen man behutsam umgehen und das man deshalb um so bewusster einsetzen muss. Ein anderes wichtiges Element des Kinos ist die Zeit – und ihre Relativität. „Dehnbar“ vor allem durch den filmischen Schnitt, wird sie dank moderner Computertricks endgültig zur modellierbaren Knetmasse, sodass bereits Harrys turbulente Reise im dreistöckigen Zauberbus programmatische Schatten auf das Kommende vorauswirft. Hohe Geschwindigkeit, aber auch extreme Langsamkeit lassen den „Magic Bus“ nicht nur fürs menschliche Auge unsichtbar werden, auch schlüpft er durch schmalste Lücken, indem er seine Form verändert. Ebenso anschaulich wie spektakulär und unterhaltsam stellt Curaón seine zentralen narrativen (Zauber-) Elemente vor, wobei Schloss Hogwarts sogar zum Gralshüter der Zeit gerinnt, wenn sich die Kamera am überdimensionalen Zifferblatt der Turmuhr, einem mächtigen, weit ausholenden Pendel und den bedeutungsvoll ineinandergreifenden Zahnrädern des Uhrwerks weidet. Eines ist vom ersten Moment an gewiss: Nach den ersten beiden „Harry Potter“-Verfilmungen hat der Stoff endgültig seine Naivität und Unschuld verloren.
Zum ersten Mal bemüht sich ein Regisseur darum, über die äußerlichen Attraktionen der Buchvorlage hinaus ins „metaphysische“ Innere der Harry-Potter-Welt vorzudringen. Als erstes treibt der Mexikaner Alfonso Cuarón („Y tu mamá también – Lust for Life“, fd 35 382) dabei mit extrem farbreduzierten Bildern dem Geschehen alles Grell-Bunte aus, dessen sich sein Regievorgänger Chris Columbus stets gerne bediente. Zudem wird alles Magische zur beinahe beiläufigen Selbstverständlichkeit: Hatte noch der kleinste Zaubertrick bei Columbus etwas Zirzensisch-Kraftmeierisches, das permanent um Beifall buhlte, registriert Curaón quasi en passant, dass sich Bilder in Tageszeitungen oder auf einem Steckbrief bewegen, Löffel sich selbsttätig in Kaffeetassen rühren oder sich die Gasthausstühle im „Tropfenden Kessel“ von allein aufräumen. Auch dass marodierende Reiter die Festhalle in Hogwarts durcheilen, Zauberschüler durch kalt-feuchte Gespenster gehen, dass Treppen schweben, die Gemälde reden – das alles ist nun „Alltag“, der gerade dadurch aber um so pointierter seine Wirkung entfaltet. Wenn es Curaón also wagt, den Erfolgsroman behutsam filmisch zu deuten, so rührt er selbstredend nicht an der spektakulären Fabel selbst, die sich während Harrys drittem Schuljahr in Hogwarts mit atemberaubenden Höhepunkten entlädt: Sirius Blacks Flucht aus Askaban, dem Höchstsicherheitsgefängnis für Schwerverbrecher, das von den schemenhaften Dementoren bewacht wird, die allem Lebenden die Erinnerungen ans Gute und Schöne, an Glück und Freude aussaugen; die Begegnung mit neuen Ausbildern wie Professor Lupin, Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste, oder der dick bebrillten Wahrsagerin Professor Trelawney; Hagrids Beförderung zum Lehrer; die magische Karte des Rumtreibers, die Ausflüge nach Hogsmeade, vor allem aber Harrys schrittweises Eindringen in die Welt seines Vaters sowie dessen einstiger Freunde, die nun auf verschiedenen Seiten zu stehen scheinen, sodass Harry nur allmählich Freund von Feind zu trennen vermag. Ein schwarzer Hund, ein Werwolf, eine Ratte – jedes Tier befindet sich in der Verwandlung, alles verliert seine festen Konturen und nimmt Harry die Sicherheit. Professor Lupin ist es, der zum Betreuer und Berater wird und ihn lehrt, sich seiner Erinnerungen, seines Glücksempfindens und seiner Freunde als unverbrüchliche Werte zu vergewissern. So vermag Harry angesichts der Lebensbedrohung durch die Dementoren seine bislang größte Zaubertat zu vollbringen, wobei es wieder die „Gnade“ des Lichts ist, die über Tod, Verzweiflung und Resignation triumphiert.
Spielerisch, aber beharrlich berührt die doppelbödige Fantasy-Fabel philosophische Themen, wird anspruchsvoller und ambitionierter als bislang, eine Tatsache, der Cuarón respektvoll Tribut zollt. Vieles aus der Romanvorlage reduziert er auf das nötige Minimum – vor allem die lange Herleitung –, sodass sich der Film mehr denn je der Kennerschaft des Zuschauers versichert und jene, die zum ersten Mal einen Harry-Potter-Film begegnen, außen vor lässt. Selbst das dramatische, thematisch wichtige Zusammentreffen aller Protagonisten im Gespensterhaus, das auch im Roman die Grenze zur Unübersichtlichkeit streift, läuft wie im Zeitraffer und unter Höchstgeschwindigkeit ab, damit Cuarón schnell wieder zu seinem eigentlichen Anliegen zurückkehren kann: dem trickreichen Spiel mit Raum und Zeit, mit Licht und Dunkelheit. Atemberaubend, wie er dabei die Landschaften ums Zauberschloss in die Ereignisse einbezieht, den Blick über Berge und Täler ausweitet und den im vierten Teil noch wichtig werdenden See berücksichtigt, ohne es zu versäumen, auf höchst sinnliche Weise kleinste Details einzustreuen: etwa wie liebevoll der Hippogreif im Flug seine Kralle durchs Wasser gleiten lässt, oder wie die Jahreszeiten wechseln, Blätter und Schneeflocken durchs Bild treiben. Bei allem Suggestiv-Düsteren und Uneindeutigen sind der Fantasie und dem staunenden Auge (fast) keine Grenzen gesetzt, sodass sich das überbordende Finale trefflich vorbereitet: Harry und Hermine auf einer Zeitreise, während der sie das fragile Zeit-Raum-Gefüge manipulieren müssen, um Menschenund Tierleben zu retten. Spätestens mit diesem finalen Glanzstück ist der literarische „Harry Potter“ auch im (Genre-)Kino angekommen, und man tut sich schwer zu akzeptieren, dass der noch düsterere, noch beklemmendere vierte Roman nicht ebenfalls von Alfonso Cuarón inszeniert werden wird. Wie schaltet man einen leuchtenden Zauberstab aus? Die Gegenformel zu „Lumos“ lautet „Nox“. Doch noch sind wir ja erst im dritten Teil, und noch vier Mal kann Harry Potter auch im Kino leuchten.