Viele Bilder von „Nói Albinói“ sind blau getönt. Das unterstreicht die Kälte, die hier, in einer kleinen isländischen Stadt, herrscht, und bezieht sich zugleich auf den abgehobenen Erzählgestus jenseits naturalistischer Alltagsschilderungen. „Nói Albinói“ ist ein Märchen: die Legende eines Jungen, der sich verweigert und permanent gegen starre Regeln und scheinbar unumstößliche Rituale rebelliert. Nói träumt von neuen Ufern, ohne zu wissen, wie er die alten verlassen soll. Sein Wunsch auszubrechen und zu fliehen, mündet am Ende in eine Katastrophe, wobei offen bleibt, ob das eine mit dem anderen zu tun hat. Regisseur Dagur Kári spielt in seinem Debütfilm souverän mit der Aura des Geheimnisvollen und besteht darauf, dass sich jeder Zuschauer seine Pfade zu metaphysischen oder biblischen Interpretationen selbst schlagen soll. In der Tat legt der junge isländische Filmemacher, der exzellent zwischen Komischem und Tragischem balanciert und eine meisterliche Lakonik entfaltet, auf nichts weniger Wert als auf eindeutige Erklärungen. Ob sein Held, der 17-jährige Albino Nói, abgrundtief faul ist oder ein bißchen verrückt oder womöglich ein Genie – oder ob er das alles in sich vereint, bleibt offen. Die klugen, fragenden Augen von Tómas Lemarquis, der den Nói spielt, weisen jedenfalls eher auf einen außergewöhnlichen als auf einen beschränkten Geist hin, und dass hinter seiner hohen Stirn viele Gedanken kreisen, die sonst wohl noch niemand in seinem Heimatort bewegen, steht schon nach den ersten Bildern außer Zweifel. Außer Frage steht freilich auch die Chancenlosigkeit des Außerordentlichen in einer doch sehr beschränkten Umgebung. Zwar denunziert Kári, wenn er die „Normalität“ des Städtchens vorführt, keineswegs dessen Bewohner. Aber er macht auch deutlich, dass hier stets nur das ewige Gleichmaß der Dinge reproduziert wird, immer nur (und bestenfalls) eine Mitte erreicht werden kann, nie ein Gipfel. Dem Film gelingt es schon nach wenigen Szenen, den Zuschauer auf die Seite Nóis zu ziehen. Der „Außenseiter“ wird schnell zur Identifikationsfigur, während die „Normalen“ sich als Protagonisten des Skurrilen und Absurden zu erkennen geben. Da ist die Großmutter, bei der Nói lebt, und die ihren Enkel nicht anders zu wecken vermag, als mit der Schrotflinte aus dem Fenster zu schießen. Da ist der Vater, der schon am Vormittag zur Schnapsflasche greift, dem Sohn aber hehre Sätze mit auf den Weg gibt: „Pünktlichkeit ist der Schlüssel zum Tempel der Ordnung.“ Da ist der dickliche Klassenkamerad David, der sich hinter Schulaufgaben verschanzt, oder der Buchhändler, der Texte von Kierkegaard als „elenden Schund“ in den Papierkorb wirft, obwohl das, was er zuvor aus Kierkegaards Buch zitierte, in Nóis Ohren hochinteressant klang. Die Absurdität des Schulunterrichts erreicht eine Spitze, als der Französischlehrer beim Zubereiten von Mayonnaise scheitert – eine Lektion, die Nói mit Tiefschlaf quittiert. Danach scheint es nur konsequent, dass sich der Junge von einem Kassettenrekorder „vertreten“ läßt: eine „offen zur Schau getragene Respektlosigkeit gegenüber allem, was unser Bildungssystem ausmacht“, wie der Direktor resümiert, bevor er ihn der Schule verweist.
Wichtig ist dabei, dass diese Personage nicht als Panoptikum vorgeführt wird, sondern sich durchaus liebenswert, warmherzig, ja sogar äußerst geduldig gegenüber Nóis Eskapaden verhält. Anders könnte die Dramaturgie des Films auch nicht funktionieren: Wären die Kleinstädter völlig der Lächerlichkeit oder Gleichgültigkeit preisgegeben, ließe sich Nóis Zögern, alles hinter sich zu lassen, viel weniger begreifen. Für jene Kämpfe, die sich im Inneren des Helden abspielen, findet Kári poetische Bilder: so, wenn Nói und seine Freundin Irís, die Tochter des Buchhändlers, nachts vor der Weltkarte im Naturkundemuseum stehen und als imaginärer Fluchtpunkt plötzlich Hawaii aufleuchtet. Oder wenn Nói, nach dem Rausschmiss aus der Schule, unter einem Regenbogen am Meer steht, gegen den er Steinchen schmeißt. Das allegorische Finale, der „Tod überall“, weist freilich darauf hin, dass solche kleinen Rebellionen nicht genügen. Um erwachsen zu werden, so unterstreicht der Film symbolhaft, muss der Abschied mitunter schmerzlich sein, wenn die Ankunft gelingen soll. Auch die unglaubliche Rettung seines Helden aus einem Meer der Verzweiflung wird von Kári märchenhaft zelebriert: Der Tod steht hier keinesfalls für das Ende, sondern für einen Anfang. In den letzten Szenen des Films werden Nóis Traumbilder lebendig. Nunmehr sind sie sonnengelb getönt. Auf Hawaii, am anderen Ende der Welt, kann eine neue Legende beginnen.